Benny und Omar
er reiten kann, hat in ihm den Burschen, der es ihm beibringt.«
Gianni war ein echter Italiener: eng anliegende Reithosen und ein weites, weißes Hemd. Wahrscheinlich hielt er sich für einen Piraten oder so. Mit einem Ruck am Zügel brachte er das Pferd vor den Achtklässlern abrupt zum Stehen. Man konnte fast hören, wie die Herzen der Mädchen schneller schlugen.
»Ciao« , sagte er.
»Tschau«, erwiderte Benny.
Gianni beachtete ihn nicht. »Die bella donna vielleicht wolle auf Pferd sitzen?«
Die bella donna nickten, als wären ihre Kinnladen gefedert.
Harmony war sich nicht so sicher. Sie war schließlich Amerikanerin und ihr erster Gedanke war: Schadenersatzprozesse. »Ich weiß nicht«, sagte sie, »das Tier ist wirklich sehr groß.«
»Er sein ganz sicher«, sagte Gianni und ließ sich vom Pferd gleiten. »Ich die Zügel halten, du Foto machen.«
»Ja, bitte, Harmony. Er ist irgendwie cool – das Pferd, meine ich.«
»Also gut. Samir, sagen Sie ihm, dass nicht geritten wird. Nur draufsitzen und fotografieren, mehr nicht.«
»Verstehe, nix reiten«, sagte Gianni.
Also saßen alle nacheinander auf. Harmony knipste sich nervös durch die Veranstaltung, ohne ein einziges Mal die Einstellung zu überprüfen. Benny rollte mit den Augen. Was war da schon dabei? Auf einem Zaun sitzen war auch nicht anders.
Gianni zeigte auf ihn. » Tu. Jetzt du.«
Benny wurde blass. Der Vergleich mit dem Zaun kam gewaltig ins Wanken.
»Los, Benny«, forderte ihn Grace auf. Das war das erste Mal in dieser Woche, dass sie mit ihm sprach.
»Ja, ja«, sagte Benny und gab sich cool. »Nur keine Aufregung.«
Er duckte sich unter dem Zaun hindurch und sah das Pferd augenrollend an. Ich bin der Chef, sagte dieser Blick. Und du gehorchst. Das Pferd schnaubte. Komm nur, du Einfaltspinsel, sendete es zurück. Stell nur deinen Fuß in den Steigbügel. Benny notierte in Gedanken, dass er ein Wörtchen mit dem Menschen reden musste, der ihm den Bären aufgebunden hatte, man könnte Tiere durch Anstarren aus der Fassung bringen.
Und jetzt hoch. Wäre schön, es ohne die Hilfe des aalglatten Italieners zu schaffen. Wenn bloß dieser blöde Steigbügel nicht in Augenhöhe baumelte. Er schwang sich hinauf, und er hätte es auch geschafft, keine Frage, aber Gianni beschloss, ihm trotzdem zu helfen. Er packte Benny am Rücken und gab ihm einen schwungvollen Schubs. Benny landete im Sattel und die hinuntergewürgte Empörung stand ihm im Gesicht geschrieben. Natürlich wählte Harmony genau diesen Augenblick, um ein Foto zu schießen. Und Wali aß genau in diesem Augenblick das letzte Pfefferminzbonbon und beschloss, dass er mehr davon haben wollte.
Nach einer halben Sekunde hatte Benny seine Fassung wieder. Dann bemerkte er, dass der große Junge über den Zaun kam. Das Pferd bemerkte es auch. Was dann folgte, lief vor Benny ab wie ein Film in Zeitlupe. Die Klasse formte mit ihren Lippen ein kollektives ›Oh!‹. Samir fiel die Zigarette aus dem Mund. Und Benny spürte durch den Sattel hindurch, wie sich die Muskeln seines Rosses anspannten. Aber das Schlimmste war, dass Gianni, der coole Mister Schleimig-Süß, die Zügel losließ. Jetzt hielt nichts mehr das wilde Biest in Zaum.
Benny versuchte es noch einmal mit Gedankenübertragung. Ruhig, Pferdchen. Ganz ruhig. Ich bin der Chef. Das Pferd wusste, dass er log. Und da Wali nur noch wenige Zentimeter entfernt war, wollte es überflüssigen Ballast loswerden. Einmal bocken reichte völlig. Von den Ohren bis zum Schweifansatz lief eine wellenartige Bewegung durch das Tier. Und Benny flog durch die Luft. Zuerst der Truthahn und jetzt das. Wie lang konnte eine Pechsträhne dauern?
Während er durch die Luft segelte, bemerkte er ein paar Dinge. Komisch, wie sich das Gehirn Einzelheiten herauspickte. Vermutlich als eine Art Ablenkung von dem nahenden Tod. Er sah, dass alle außer Grace das Pferd anstarrten. Dass Harmonys Haaransatz grau war. Ha! So viel zu ihrer Glaubwürdigkeit. Kein Hippie würde so etwas Natürliches wie graue Haare verbergen. Außerdem entdeckte er aus dieser Höhe hinter den Ställen noch ein anderes Gebäude. Weiße Mauern, vergitterte Fenster. Und noch etwas. Unten in der Ecke eines schmutzigen Fensters. Eine Hand. Eine kleine braune Hand, die Streifen auf die Scheibe rieb.
Dann erreichte Benny den höchsten Punkt seiner Flugbahn und begann mit dem Sinkflug. Nichts unter ihm als harter Boden. Nie war ein Truthahn in der Nähe, wenn man einen brauchte.
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