Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
junge Frau griff in die Tasche ihrer Jeans und nahm einen Vierteldollar heraus, den sie einmal mit dem Daumen drehte. Dann schob sie ihn über den Couchtisch. »Denken Sie laut«, bat sie.
»Was ich denke, gefällt mir nicht. Ich habe das Gefühl, wenn ich es ausspreche, wird es real.«
»Wir würden diese Sache nicht sehen, wenn sie nicht bereits real wäre. Daher können Sie Ihre Meinung ruhig äußern.«
Mit ernster, ja grimmiger Miene sagte Janie: »Ein Gen kann nur patentiert werden, wenn es verändert worden ist. Dieses Gen muß also jemandem entnommen, verändert und dann diesen Jungen eingepflanzt worden sein. Anders kann es nicht gewesen sein.« Sie seufzte tief. »Wir müssen herausfinden, wer das getan hat. Aber der Teil, der wirklich aufregend wird« – sie rieb sich die Schläfen und schloß die Augen –, »ist die Entdeckung, wie man es repariert.«
Die Liste der Variablen schien zu wachsen und nicht zu schrumpfen, wie Janie erwartet hatte. Jede neue Information löste nicht etwa ein Problem, sondern warf ein weiteres auf. Da sie es vor sich sehen mußte, kritzelte Janie, sobald Kristina gegangen war, mit roter Tinte auf einen Stenoblock mit lila Linien. Es sah unordentlich aus wie alle ihre Notizen seit ihrem Medizinstudium. Auch Alejandro war Arzt, schalt sie sich selbst, und er hatte eine wunderschöne Handschrift. Sie versuchte, lockerer zu schreiben und lange Buchstaben mit zarten Ober- und Unterlängen zu bilden, wie ihr Held es sogar in seinen verzweifeltsten Stunden beibehielt.
Aber es wurde nicht besser, und sie kam zu dem Schluß, daß das mehr an dem lag, was sie geschrieben hatte – als an ihrer Handschrift.
Verändertes Gen beginnt als angeborenes Gen. Wessen? Patient Null.
Angeborenes Gen wird verändert. Von wem? Und warum?
Verändertes Gen wird reproduziert und zum Patent angemeldet. Patent wird gewährt – wem? Und zu welchem potentiellen Gebrauch?
Irgendwo mußte es angefangen haben. Irgendwann mußte ein Kind mit dieser speziellen genetischen Anomalie in die Obhut eines Orthopäden mit starkem Interesse an Genetik geraten sein. Und das mußte vor den Ausbrüchen geschehen sein, damals, als Patienten manchmal noch wählen konnten, von wem sie sich behandeln ließen, und Ärzte innovative Behandlungsmethoden anwendeten, ohne fürchten zu müssen, behindert oder geächtet zu werden. Beziehungsweise finanziell ruiniert.
Der ganzen Situation haftete der Beigeschmack von nicht beendeter Forschungsarbeit an. Vielleicht war das Projekt schiefgelaufen, aufgegeben und später von jemand anderem wieder aufgegriffen worden, der eine andere Vorstellung davon hatte, was dabei herauskommen sollte. Vor ihrem geistigen Auge sah Janie das Knochenbild von Abrahams Wirbelsäule nach dem Bruch. Es machte sie wütend – das Rückgrat des Jungen sah aus, als hätte jemand einen Hammer genommen und darauf geschlagen, bis es kein Stück mehr gab, das größer war als eine Zehncentmünze. Was für einen tragischen, entsetzlichen Fehler hatte da jemand begangen.
Denn es mußte ein Fehler gewesen sein, ein ursprünglich gutgemeinter Versuch, etwas Nützliches zu vollbringen, der irgendwie schrecklich gescheitert war. Es war einfach unmöglich, daß ein anständiges menschliches Wesen, das sich mit der Behandlung eines anderen menschlichen Wesens befaßte, solche Dinge geschehen ließ, ohne darüber zu berichten.
Und wenn es leider kein Unfall war, sondern Absicht, dann würde Janie, wenn sie den Verantwortlichen dingfest gemacht hätte, ihm erbarmungslos in den Hintern treten.
Weißt Du, wie sehr ich dich liebe? begann die E-mail. Wie sehr ich mir wünsche, bei Dir zu sein? Was Du mir bedeutest? Ich spüre, daß Dein Leben sich mit Ablenkungen füllt, die Dich von mir und den Dingen entfernen, die für uns wichtig sind. Zwar habe ich kein Recht, Dir vorzuschreiben, was Du tun sollst – aber ich bitte Dich zu bedenken, was aus unserem Leben wird, wenn Du den Weg weitergehst, den du eingeschlagen hast. Ich habe Angst, daß Du etwas Wichtiges übersiehst, irgendein Signal von bevorstehendem Verhängnis oder Gefahr, und daß Dir etwas zustößt.
O Bruce, dachte sie traurig, bitte tu das jetzt nicht … stell dich mir bitte nicht in den Weg.
Seine Nachricht ging weiter: Wir müssen dringend in Island darüber reden.
Island! dachte sie, als sie das las. Hilfe … wie kann ich diese Arbeit unterbrechen, um nach Island zu fahren?
Hektisch tippte sie eine Nachricht an das Reisebüro in den
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