Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
gewesen, über ihn zu sprechen, und so hatte er seiner während des langen Winters schweigend gedacht. Obwohl er seine Gedanken niemals äußerte, fragte Alejandro sich oft, wie er seine letzten Stunden verbracht haben mochte. Hatte er seinen Peinigern getrotzt und sie verspottet, wie sie ihn verspottet hatten, wissend, daß dies seine letzte Gelegenheit dazu sein würde? Oder hatte er stoisch geschwiegen, als Navarra und Coucy seinen Untergang planten? Was für ein Schock mußte es für Karle gewesen sein, als er erfuhr, daß ein Bündnis mit ihm nicht gebraucht wurde, weil der Dauphin nicht über die notwendigen Truppen verfügte und daher keine Schlacht zwischen Navarra und dem französischen Thronerben stattfände. Und doch war es ihm gelungen, Navarra ein feierliches Versprechen abzupressen, und zwar mit soviel Leidenschaft, daß der Schurke es tatsächlich gehalten hatte.
Oft hatte er sich gefragt, ob Karle derjenige gewesen war, der Navarras Arm aufgeschlitzt und sich so seinen Respekt verdient hatte. Die Wunde war einige Tage alt gewesen, als er sie behandelte.
Diese Fragen gingen ihm wieder durch den Kopf, als sie sich auf die Reise nach Paris vorbereiteten. Er würde die Antworten allerdings niemals erhalten, ohne Navarra gegenüberzutreten. Und das gelänge ihm nur, wenn sein Körper ihn nicht aus Schwäche im Stich ließ.
»Kollege?« sagte de Chauliac sanft, als alles gepackt war. »Seid Ihr bereit?«
»In etwa«, kam die leise Antwort.
Sie hatten nichts, das es wert war, mitgenommen zu werden, bis auf Alejandros Gerätetasche und die Büchse mit dem getrockneten Fleisch, das Kate so sorgfältig hergestellt hatte, als sie sich im Langhaus niederließen. Diese Gegenstände paßten genau in die Satteltasche, in der de Chauliac seine Nahrungsmittel mitgebracht hatte. Es war eine jämmerliche Erkenntnis, daß alles, was sie auf der Welt besaßen, kaum mehr Raum einnahm als das, was jetzt ihre Bäuche füllte. Also versuchte Alejandro, auf dem Ritt nicht daran zu denken; statt dessen konzentrierte er sich darauf, Kate festzuhalten, die vor ihm auf dem größeren der beiden Pferde saß. Zuerst hatte er gedacht, die Last werde für das Pferd zu groß sein, und nebenhergehen wollen; doch de Chauliac überzeugte ihn ohne große Schwierigkeiten davon, daß sein und Kates Gewicht zusammen nicht viel mehr ausmachten als sein eigenes. So stieg Alejandro in den Sattel, dankbar, seiner Schuldgefühle ledig zu sein.
Die Wege waren noch gefroren, und im frischen Schnee gab es nur wenige Spuren außer den leicht verschneiten Abdrücken der Hufe, die de Chauliacs Pferde auf dem Hinweg hinterlassen hatten. In den Wäldern ringsum herrschte unheimliche Stille, denn das Wild war größtenteils verschwunden, und die Vogelwelt noch nicht zurückgekehrt. Der Schnee dämpfte alle Geräusche bis auf das gelegentliche Brechen eines Astes, der die Last des Eises nicht mehr zu tragen vermochte. Am Straßenrand sah Alejandro ab und zu die unverkennbare Form eines Schädels, von frischem Schnee bedeckt, oder eine Erhebung, bei der es sich nur um die sterblichen Überreste irgendeines armen Schluckers handeln konnte. Einst war diese Straße auf beiden Seiten von Scheiterhaufen gesäumt gewesen, denn wenn Brennholz zu finden und genug Zeit gewesen war, hatten diejenigen, die noch die Kraft dazu besaßen, die Toten verbrannt. Rot hatten die Flammen gelodert, und mit jedem Atemzug drang einem der ekelhafte Gestank in die Lungen. Wenn er die Augen schloß, konnte Alejandro noch immer die Schreie der Männer hören, die auf der Straße nach Compiègne gestorben waren, das Heulen der Verwundeten, die Hufschläge von Navarras Pferd, als er mit dem hochfahrenden Coucy an der Seite eintraf, um sich behandeln zu lassen.
Sie passierten das Stadttor von Paris ohne Zwischenfälle, denn de Chauliac hatte den Zeitpunkt ihrer Ankunft vorher angekündigt. Die Straßen waren still und nahezu verlassen bis auf die in wollene Umhänge gehüllten Ausrufer, die den Bewohnern der fest verschlossenen Häuser die Stunde verkündeten; die Glücklichen, die noch Brennstoff hatten, kauerten bei mageren Mahlzeiten beieinander. Die Geschäfte waren mit Läden verschlossen oder mit Brettern vernagelt, die Cafes dunkel und still. Und als sie an Notre Dame vorbeiritten, sah Alejandro keine Arbeiter auf dem Gerüst, und er hörte auch nichts von dem Gesang, der die Nähe dieser Bastion christlicher Exzesse erträglich gemacht hatte.
Auf dem Vorplatz gab es keine
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