Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
beugte sich auf seinem Sessel vor. »Pardon?«
»Ratten«, wiederholte Alejandro.
De Chauliacs harte blaue Augen eilten rasch in die Ecken des Raumes. »Ich versichere Euch, hier gibt es keine Ratten. In der Küche vielleicht, aber die ist weit entfernt, im Keller.« Seine Stimme nahm einen leicht gekränkten Ton an, die seinen Zuhörer überraschte. »Ich hatte gedacht, Ihr würdet von meiner Sammlung stärker beeindruckt sein.«
»Nein!« sagte Alejandro. »Ich meine – ja! Eure Bibliothek ist …«, zögernd suchte er nach dem richtigen Wort.
»Prachtvoll! Ich habe dergleichen seit ewiger Zeit nicht mehr gesehen.«
Ein zufriedenes Lächeln breitete sich langsam auf de Chauliacs Zügen aus; doch dann, scheinbar, ohne daß er es merkte, wurde seine Miene unsicher. »Wieso sprecht Ihr dann von Ratten?«
»Die Ansteckung!« antwortete Alejandro erregt. »Mit der Pest. Sie wird von Ratten übertragen, da bin ich ganz sicher!«
De Chauliac starrte ihn einen Augenblick lang an. Dann kicherte er, kicherte immer weiter, bis aus dem Kichern reiner Hohn wurde. Bald hielt er sich die Seiten; selbst die Wachen an der Tür verloren ihre steife Haltung.
»Ich bin dessen sicher! « wiederholte Alejandro fast schreiend, und das Gelächter verstummte.
De Chauliac erhob sich, stemmte seine edlen Knochen langsam aus dem Sessel hoch, bis er in voller Größe dastand. Er setzte sich in Bewegung und machte erst dicht vor Alejandro halt. Kalt sagte der große Franzose: »Solange Ihr Gast in meinem Haus seid, Monsieur, werdet Ihr nicht die Stimme erheben. Das ist kein angemessenes Betragen.«
Alejandro verstummte. Als er das Wort Gast hörte, erinnerte er sich, daß er in dieser Bibliothek ein Gefangener war, bis es de Chauliac einfiel, ihn wieder in das Grabgewölbe bringen zu lassen; also beschloß er, nicht noch einmal laut zu werden.
»Ich bitte um Vergebung, Monsieur « , sagte er entsprechend zerknirscht. »Eure Gastfreundschaft möchte ich nicht mißbrauchen. Es war nur mein großer Eifer, dieses Wissen mit Euch zu teilen, der mich veranlaßte zu schreien.«
De Chauliacs Augen durchbohrten ihn weiterhin. Alejandro sah darin etwas, was er nicht ganz definieren konnte. War es – aber nein … Das konnte nicht sein. Einen ganz kurzen Moment lang hatte er geglaubt, in diesen blauen Augen so etwas wie Traurigkeit zu entdecken. Als fühle de Chauliac sich irgendwie – verraten.
Der Franzose wandte sich plötzlich ab und nahm einen Stapel sauber gefalteter Kleider von einem nahen Tisch. »Hier«, sagte er und warf ihn Alejandro zu, »wir werden Eure verrückte Theorie beim Diner diskutieren.« Tadelnd erhob er einen Finger. »Aber zuerst werdet Ihr Euch säubern. Ihr stinkt!«
Majestätisch schritt er aus dem Raum und ließ Alejandro allein mit den Wachen und einem Schatz an Büchern zurück. Doch Alejandro hatte keine Gelegenheit, sich an der Bibliothek zu erfreuen. Umgehend führten ihn die Wachen durch eine Reihe langer Flure und gewundener Gänge in eine kleine Kammer im obersten Geschoß des Hauses, das unendlich viele Räume zu haben schien. Alejandro versuchte, sich den Weg zu merken; doch als sie die solide Holztür hinter ihm schlossen, wurde ihm klar, daß ein Fluchtversuch an verschiedenen Punkten dieses Weges scheitern würde. Es gab ein Fenster mit klarem Glas, das groß genug für seinen Körper war, doch als er die von Holz eingerahmten Scheiben öffnete und nach unten schaute, schien er sich in schwindelnder Höhe zu befinden, viel zu hoch, um einen ungeschützten Sprung zu überleben. Auf der Straße unten herrschte geschäftiges Treiben – wenn er sich nicht beide Beine brach, so würde man ihn mit Sicherheit fassen, und was dann?
Nein. Er würde warten und versuchen, Informationen zu sammeln, eher er sich zum Handeln entschloß.
Wenn er das verglaste Fenster öffnete und den Kopf hinausstreckte, konnte er gerade noch den Fluß erkennen. Jenseits davon lag die relative Sicherheit der Rue des Rosiers im Marais. War Kate jetzt dort und wartete vergeblich auf sein Erscheinen? Falls ja, war das nur seine eigene Schuld. Er war neugierig auf ein seltsames Wort gewesen, dessen Bedeutung, als er sie schließlich entdeckte, unwichtig schien im Vergleich mit dem Mißgeschick, zu dem es geführt hatte. Weh dem … hatte die Handschrift verkündet, und ihn schauderte. Anscheinend war dieser Abraham so etwas wie ein Prophet.
Gott verdamme meine Neugier, dachte er bedrückt, denn sie bringt mir immer Schaden.
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