Beobachter
wäre sie nicht immer noch – immer noch – das Mädchen, dem es an Selbstvertrauen fehlte, sie hätte das alles anders einordnen können. Vor langen Jahren war sie aus der Geborgenheit ihres Elternhauses viel zu schnell in die Ehe mit Thomas Ward gegangen. Er hatte von ihrer ersten Begegnung an stets hinter ihr gestanden, sie hatte sich immer sicher gefühlt. Vieles von dem, was sie voller Freude für eine Emanzipation von ihren Eltern gehalten hatte, war in Wahrheit eine Emanzipation unter dem Schutzschirm eines starken und selbstbewussten Mannes gewesen. Als Thomas dann in seiner beruflichen Überforderung, in der immer schlimmer werdenden Atemlosigkeit, mit der er durch sein Leben hetzte, für sie nicht mehr spürbar gewesen war, hatte sie wie ein verlassenes Kind reagiert und sich sofort in die Arme des nächsten Mannes geworfen: John war erschienen, hatte sie begehrt und bewundert und ihr damit Wärme gegeben und Selbstvertrauen. Aber so konnte ihr Leben nicht weitergehen, das hatte sie inmitten all dem Schmerz, der Trauer und der Schuldgefühle der letzten Tage verstanden. Sie musste lernen, sich selbst zu behaupten, so bitter und verzweifelt der Weg dorthin auch sein mochte.
Das Handy klingelte erneut. Diesmal war es Gillians Mutter, ausgerechnet, die berichtete, dass es Becky den Umständen entsprechend gut gehe, dass sie mit ihrem Großvater ins Hallenbad gefahren sei und dass sie am morgigen Montag zum ersten Mal zu ihrem Therapeuten gehen werde. Dann wollte sie wissen, wann Tom beerdigt würde.
Das kommt ja auch noch alles auf mich zu, dachte Gillian erschöpft.
»Ich weiß es noch nicht, Mummy. Er ist immer noch in der Rechtsmedizin. Ich sage dir rechtzeitig Bescheid.«
»Was für eine schreckliche Tragödie«, sagte ihre Mutter. »Ich bin ja nur froh, dass du diese Freundin hast, bei der du wohnen kannst! Ich hätte sonst nicht eine einzige ruhige Sekunde.«
Gillian beschloss, sie in dem Glauben zu lassen, sie sei noch immer bei Tara. Sie konnte sich das Lamento, das sonst einsetzen würde, nur zu gut vorstellen, und für den Moment fühlte sie nicht die Kraft, es durchzustehen.
»Sag Becky einen schönen Gruß von mir«, bat sie zum Abschied. »Sie soll mich anrufen, ja? Ich möchte ihre Stimme hören.«
Kurz nach halb vier. Der Nachmittag lag noch immer lang und schweigend vor ihr.
Sie stand auf, zog Stiefel, Jacke, Schal und Handschuhe an. Zum Glück hatte es ja kräftig geschneit in der vergangenen Woche.
Sie würde Schnee schippen. Danach wäre sie vielleicht einfach zu müde für einen Nervenzusammenbruch.
MONTAG, 11. JANUAR
1
»Können Sie sich an Liza Stanford genauer erinnern?«, fragte Christy. Sie wusste, dass der Moment völlig ungünstig war, an dem sie die kinderärztliche Praxisgemeinschaft, der Anne Westley angehört hatte, nun bereits zum dritten Mal aufsuchte. Montagmorgen und für viele Schulen der erste Tag nach den Weihnachtsferien. Das Wartezimmer war rappelvoll. Zwei Ärztinnen hatten die Grippe, wie sie erfahren hatte, die zwei verbleibenden Mediziner, ein junger nervöser Arzt und eine Ärztin, die bereits so aussah, als wäre sie die Nächste, die sich mit Grippe würde ins Bett legen müssen, hatten alle Hände voll zu tun, des Patientenansturms Herr zu werden. In das Chaos hinein war sie nun geplatzt, um weitere dringende und detaillierte Fragen bezüglich des Patienten Finley Stanford beziehungsweise seiner Mutter zu stellen. Sie kam so ungelegen, dass man sie am liebsten mit ein paar mehr oder weniger höflichen Worten hinauskomplimentiert hätte, aber schließlich sah man ein, dass diese Frau auch nur ihren Job machte.
»Geht das nicht später?«, fragte die Dame am Empfang entnervt, und Christy schüttelte freundlich, aber sehr bestimmt den Kopf.
»Leider nein. Sie können mir glauben, ich würde Sie nicht belästigen, wenn ich eine andere Möglichkeit hätte.«
Immerhin hatte sich die Dame – ein Schild am Revers ihres weißen Kittels wies sie als Tess Pritchard aus – bereit erklärt, Christy erneut einige Fragen zu beantworten, und zog sich mit ihr in das für diesen Tag leer stehende Sprechzimmer einer der erkrankten Ärztinnen zurück, wo sie selbst hinter dem Schreibtisch Platz nahm und Christy einen der gegenüberstehenden Stühle zuwies. Auf die Frage nach Liza Stanford nickte sie.
»Oh ja. An die erinnere ich mich gut!«
»Weshalb? Was fiel Ihnen an ihr auf?«
Tess gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Ihr Reichtum fiel auf. Und ihre
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