Beobachter
Arroganz. Beides war im Übermaß vorhanden.«
»Sie meinen, man sah ihr an, dass sie Geld hatte?«
»Man hätte schon blind sein müssen, um das nicht zu sehen. Sie hängte das so was von raus … Immer die schicksten Kostüme. Schwerer Schmuck. Eine riesige Sonnenbrille von Gucci. Handtasche von Hermès. Und draußen der Bentley. Einmal parkte sie direkt vor der Praxis, da konnten wir ihn sehen.«
»Verstehe. Und sie verhielt sich … arrogant?«
»Wir Arzthelferinnen waren sowieso völlig unter ihrem Niveau«, sagte Tess. »Da bekam sie kaum die Lippen auseinander. Es war unter ihrer Würde, mit uns zu reden. Ich vermute, drinnen bei Dr. Westley war sie gesprächiger. Muss sie ja wohl gewesen sein, wenn sie erklären wollte, was ihrem Jungen fehlte.«
»Da waren Sie aber nie dabei? Im Sprechzimmer, meine ich?«
Tess schüttelte den Kopf. »Nein. Ich nicht und niemand sonst. Ist eigentlich auch nicht üblich, es sei denn, man wird zum Assistieren gebraucht. Das war aber nicht der Fall. Dem Jungen fehlte ja auch nie etwas Besonderes.«
»Wie haben Sie Finley erlebt?«
Tess überlegte. »Ein netter Junge. Ich fand ihn sympathisch. Er war recht still, aber nicht auf diese hochnäsige Art wie seine Mutter, sondern eher schüchtern. Ein zurückhaltendes Kind.«
»Ungewöhnlich schüchtern? Ungewöhnlich zurückhaltend?«
»Nein. Wir erleben hier alles, wissen Sie. Manche Kinder rasen wie aufgezogene Kreisel durch die Räume, und die Eltern kriegen sie keinen Moment zur Ruhe. Andere, die nicht so gern zum Arzt gehen und die auch der ganze Betrieb hier verunsichert, verstummen völlig und ziehen sich in sich selbst zurück. Finley gehörte eben zu denen, die eher ruhig reagierten. Aber insgesamt absolut normal.«
»Er ist aber relativ spät erst in Ihre Praxis gekommen? Und wenn ich das den Unterlagen, die ich am Freitag einsehen konnte, richtig entnommen habe, ist er auch nur fünf Mal hier gewesen. Bis zu seinem neunten Lebensjahr. Als kleines Kind wurde er hier nicht betreut?«
»Nein. Er war bereits sieben Jahre alt, als er zum ersten Mal hier erschien. Soweit ich mich entsinne, ging es um eine Bronchitis, die sich aus einer Erkältung entwickelt hatte und einfach nicht besser werden wollte. Also auch nichts Spektakuläres.«
»Finley war insgesamt recht gesund?«
»Ja. Alles, weswegen seine Mutter mit ihm hierherkam, waren harmlose Erkrankungen. Und oft war er sowieso nicht krank.«
»Hat sich Dr. Westley über Liza Stanford geäußert? Irgendetwas über sie erzählt? Etwas erwähnt? Irgendetwas?«
»Nein«, sagte Tess, »in diesen Dingen war sie sehr strikt. Zumindest uns, also den Angestellten, gegenüber. Da hätte sie nie über Patienten und deren Eltern ein Wort verloren. Bei der Stanford schon gar nicht. Ihr war sicher nicht entgangen, wie wir über sie herzogen, und sie hätte sich gehütet, sich daran zu beteiligen. Oder gar noch Öl in die Flammen zu gießen.«
»Kann es sein, dass sie mit ihren Arztkollegen über sie gesprochen hat?«
»Das wäre eher möglich«, meinte Tess zögernd. »Allerdings, die beiden Ärzte, die heute hier sind, haben noch nicht bei uns gearbeitet, als Dr. Westley noch hier war. Häufiger ausgetauscht hat sie sich mit Dr. Phyllis Skinner.«
»Eine der Damen, die Grippe hat«, vermutete Christy seufzend.
»Genau. Also, wenn sie mit jemandem hier über Patienten und deren jeweiligen medizinischen Fall gesprochen hat, dann mit ihr.«
»Kann ich ihre Adresse haben? Ich müsste Dr. Skinner dringend dazu befragen.«
»Sicher«, sagte Tess bereitwillig. Sie schaute auf ihre Uhr. Von draußen hörten sie beständig das Telefon und die Türklingel läuten. »Sergeant, ich will nicht unhöflich sein …«
»Ich bin gleich am Ende«, versprach Christy, »nur zwei Dinge noch. Damit ich richtig informiert bin: Finley war zwischen seinem siebten und seinem neunten Lebensjahr hier. Fünf Mal. Er ist heute zwölf. Das heißt, seit drei Jahren ist er nicht mehr hier gewesen?«
»Seit etwa dreieinhalb Jahren sogar. Das ist richtig.«
»Er und seine Mutter blieben demnach weg, als auch Dr. Westley in den Ruhestand ging?«
»Ja.«
»Und zum Zweiten: Uns liegt eine Aussage vor, wonach Liza Stanford unter Depressionen leiden soll. Depressionen, die sie dazu bringen, zeitweise vollkommen unterzutauchen, sich von ihrer Familie zu entfernen, nicht mehr auffindbar zu sein. Wissen Sie etwas davon?«
»Nein«, sagte Tess verblüfft.
»Sie haben auch nichts von Depressionen
Weitere Kostenlose Bücher