Beobachter
war nicht sicher gewesen, ob sie überhaupt vernehmungsfähig war, aber er wusste, dass die Zeit drängte. Carla Roberts hatte vermutlich bereits seit über einer Woche tot in ihrer Wohnung gelegen, ehe sie nun von ihrer Tochter am Tag zuvor entdeckt worden war, und dieser Umstand hatte ihrem Mörder bereits jede Menge Vorsprung verschafft. Es galt rasch zu handeln, aber zunächst war aus dieser wie Espenlaub zitternden jungen Frau, die ihr Baby an sich gepresst hielt und zu weinen begann, als eine Polizeibeamtin es ihr für einen Moment abnehmen wollte, absolut nichts herauszuholen gewesen. Ein Streifenwagen hatte sie am Abend ins Krankenhaus gefahren, wo sie übernachtet und etliche Medikamente bekommen hatte: An diesem Morgen nun hatte man sie in ihr Haus in Bracknell zurückgebracht.
Die Beamten, die sie begleiteten, hatten Fielder über sein Handy verständigt, dass es Keira Jones besser zu gehen schien. Daher saß er nun in dem hübsch eingerichteten, warmen Wohnzimmer und trank ein Mineralwasser, und ihm gegenüber saß Keira, kreideweiß im Gesicht, aber deutlich gefasster als am Vortag. Ihr Mann, Greg Jones, war daheim. Als Fielder eintraf, hatte er gerade das Baby gefüttert und gewickelt und dann wieder ins Bett gelegt, und nun stand er am Fenster, die Arme vor der Brust verschränkt, weniger Abwehr als ein gewisses Schutzbedürfnis ausstrahlend. Er war deutlich erschüttert, versuchte aber, einigermaßen ruhig und gefasst zu bleiben.
»Mrs. Jones«, sagte Fielder vorsichtig, »ich weiß, es ist nicht leicht für Sie, jetzt mit mir zu sprechen, und es tut mir wirklich leid, Sie bedrängen zu müssen, aber wir haben leider keine Zeit mehr zu verlieren. Nach der ersten Schätzung des Rechtsmediziners könnte Ihre Mutter bereits seit etwa zehn Tagen tot sein, das heißt, sie ist unglücklicherweise recht spät gefunden worden …«
Keira schloss kurz die Augen und nickte.
»Wir haben einen kleinen Sohn, der gerade eine ziemlich anstrengende Phase durchläuft, Inspector«, sagte ihr Mann, »und meine Frau ist seit Monaten am Ende ihrer Kräfte. Ich arbeite den ganzen Tag und kann ihr nur wenig helfen. Meine Schwiegermutter fühlte sich von ihr vernachlässigt, aber …«
»Greg!«, sagte Keira leise und gequält. »Sie fühlte sich nicht einfach vernachlässigt. Ich habe sie vernachlässigt.«
»Lieber Himmel, Keira, ich arbeite hart. Wir haben ein kleines Kind. Du konntest nicht ständig nach Hackney fahren und deiner Mutter die Hand halten!«
»Ich hätte sie wenigstens öfter anrufen müssen.«
»Wann haben Sie sie denn zuletzt angerufen?«, fragte Fielder. »Oder genauer: Wann hatten Sie überhaupt zum letzten Mal in irgendeiner Form Kontakt mit Ihrer Mutter?«
Keira überlegte einen Moment. »Das war … ja, das war am vorletzten Sonntag. Ist also über eine Woche her. Da rief sie relativ spät abends an, gegen zehn Uhr.«
»Danach haben Sie nicht mehr mit ihr gesprochen?«
»Nein.«
Fielder rechnete nach. »Das muss dann also Sonntag, der 22. November gewesen sein. Heute haben wir den 2. Dezember. Vieles spricht dafür, dass sie ziemlich bald nach dem Gespräch mit Ihnen … überfallen wurde.«
»Ermordet wurde«, flüsterte Keira.
Er nickte. »Ja. Ermordet wurde.«
»Es ist furchtbar«, sagte Greg Jones, »ganz furchtbar. Aber wer konnte so etwas ahnen?«
Fielder blickte zum Fenster hinaus. In dem gepflegten Vorgärtchen standen eine Schaukel, ein Sandkasten und eine Rutschbahn. Bunt und fröhlich, von dem stolzen Vater vermutlich selbst liebevoll und etwas verfrüht für den kleinen Sohn aufgebaut. Die Jones’ schienen eine glückliche Familie zu sein. Weder Keira noch Greg wirkten kaltherzig oder egozentrisch. Es war vieles zusammengekommen: Greg hatte Stress im Beruf, Keira Stress mit dem Baby. Der Weg hinüber nach Hackney war weit und umständlich, mit einem Kleinkind im Schlepptau sicher noch anstrengender. Die alleinstehende Großmutter war bei all dem durch das Raster der jungen Familie gerutscht. Carla hatte besonders ihrer Tochter wahrscheinlich ständig ein schlechtes Gewissen verursacht, aber Keira hatte dennoch keinen Weg gefunden, sie in ihr Leben zu integrieren.
Es war einfach so wie in vielen Familien.
»Ihre Mutter war geschieden?«, fragte Fielder. Keira hatte diese Angabe bereits in der ersten kurzen Vernehmung am Tatort gemacht, aber Fielder wollte Näheres darüber wissen.
»Ja«, sagte Keira. »Seit zehn Jahren.«
»Haben Sie Kontakt zu Ihrem Vater? Hatte Ihre
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