Beobachter
ja, zunächst einmal wärest du einfach in Sicherheit. Das ist die Hauptsache.«
Gillian dachte nach. Ein Hotel, eine Pension … irgendwo in der Abgeschiedenheit. In Cornwall vielleicht oder in Devon. Sie sah sich über verschneite Klippen wandern, das Gesicht gerötet vom eisigen Wind. Tara hatte recht: Zunächst einmal wäre sie einfach in Sicherheit.
»Ich weiß nicht … Vernünftig wäre es bestimmt …«
Vernünftig. Aber nicht allzu verlockend. Gillian fragte sich jedoch, ob sie überhaupt die Wahl hatte.
Auf jeden Fall durfte es nur eine kurzfristige Lösung sein. Sie wollte nicht monatelang untertauchen. Aber vielleicht konnte sie von dort aus ihr neues Leben in Norwich vorbereiten. Einen Laptop mitnehmen und Stellenangebote durchsuchen. Den Immobilienmarkt erkunden. Das würde ihr das Gefühl nehmen, völlig auf der Stelle zu treten.
»Wir dürften zu niemandem ein Sterbenswort sagen«, sagte sie.
»Nein«, sagte Tara.
Was für ein Albtraum, dachte Gillian.
DONNERSTAG, 14. JANUAR
1
Er hatte das dunkelrote Backsteingebäude der Hampstead-Tube-Station seit einer Stunde fest im Blick. Ebenso die Hampstead High Street und die Heathstreet, an deren Gabelung sich der Bahnhof befand. Trotz Kälte und Schnee herrschte reges Leben zwischen den Häusern mit ihren Geschäften, Pubs und Cafés. Es würde nicht einfach sein, zwischen all den hin und her eilenden Passanten den Menschen ausfindig zu machen, den er suchte: eine blonde Frau, die Ausschau nach ihrem Sohn hielt.
Natürlich war er darauf gefasst, dass sie sich tarnte. Wenn sie aus irgendeinem Grund unerkannt bleiben wollte, trug sie wahrscheinlich eine Perücke. Insofern war das Attribut blond nicht das, was er unbedingt erwartete. Auch eine schwarz- oder rothaarige Frau, die hier suchend herumstand, hätte sein Interesse geweckt. Aber er sah überhaupt keine Frau, die herumstand . Die Menschen, die aus dem Bahnhof strömten, und die, die sich die Straßen entlang bewegten, verharrten nicht. Es war kalt und feucht. Jeder blieb in Bewegung.
Wichtig war es nun, Finley auszumachen, wenn er aufkreuzte, und herauszufinden, in welchem Haus er schließlich verschwand. John würde bessere Chancen haben, wenn er nicht länger zwei belebte Straßen im Auge behalten musste, sondern sich auf ein einzelnes Gebäude und dessen Umgebung konzentrieren konnte.
Vielleicht hatte er Glück.
Seinem Logierbesuch, Samson, hatte er nicht erzählt, was er vorhatte. Er hatte ihm morgens erklärt, er werde den ganzen Tag über im Büro bleiben. Samson solle bitte die Wohnung nicht verlassen und niemandem öffnen. Samson hatte ihm das versprochen. Er hatte auf dem Sessel in dem leeren Wohnzimmer gesessen und hinter John hergeblickt.
Lange hält er das bei mir auch nicht aus, hatte John gedacht.
Er trat von einem Fuß auf den anderen, hauchte zwischendurch warmen Atem in seine kalten Hände. Er hatte seine Handschuhe vergessen. Die ganze Geschichte würde wahrscheinlich so ausgehen, dass er zwar Liza Stanford nicht fand, sich dafür aber eine Lungenentzündung zuzog.
Gegen halb fünf, als er bereits überzeugt war, nichts mehr zu entdecken, was ihn weiterbrachte, gewahrte er plötzlich Finley Stanford, der die High Street entlangkam. Er musste weiter vorne aus dem Bus gestiegen sein. Er trug einen Rucksack auf dem Rücken, in dem sich vermutlich die Klaviernoten befanden. Er bewegte sich gemächlich und schien es nicht ausgesprochen eilig zu haben. Das Klavierspielen gehörte ganz offensichtlich nicht gerade zu seinen Leidenschaften.
John war mit einem Schlag hellwach. Frustration, Müdigkeit, Kälte verflogen im Bruchteil einer Sekunde. Jetzt war der Moment gekommen. Wenn Liza Stanford einen Blick auf ihren Sohn werfen wollte, dann wäre es jetzt der günstigste Zeitpunkt. Innerhalb der nächsten ein oder zwei Minuten wäre er in dem Haus seiner Klavierlehrerin verschwunden, und dann bliebe nur noch der Augenblick, wenn er das Haus wieder verließ. Bis dahin würde es aber bereits dunkel sein.
Er sah sich um. Die Straße hoch, die Straße hinunter, hinter sich, über sich. Gab es irgendwo eine Gestalt, die ihm verdächtig vorkam?
Die Frau schien aus dem Nichts aufzutauchen. Das allein machte sie bereits auffällig. John hatte eine Sekunde zuvor genau dorthin geschaut, wo sie jetzt stand, und sie war nicht da gewesen, nicht einmal in der Nähe. Jetzt stand sie dort. Gut hundert Meter entfernt von ihm die Straße hinauf. Sie war dick vermummt, was allerdings bei den
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