Beobachter
meisten Menschen an diesem Tag der Fall war. Etwas seltsam schien nur, dass nicht eine einzige Strähne ihrer Haare zu sehen war. Sie trug eine unförmig wirkende Strickmütze tief ins Gesicht und weit über die Ohren gezogen. Ihre Haare hatte sie vollkommen darunter versteckt.
Am merkwürdigsten aber erschien angesichts der herrschenden Witterung ihre riesige Sonnenbrille. Ein Ungetüm, das fast ihr ganzes Gesicht bedeckte. Dazu der hochgeschlagene Mantelkragen, der über das Kinn hinaufgezogene Schal … Eine Frau, die keinesfalls erkannt werden wollte.
Sie starrte ein Haus an, das auf der ihr gegenüberliegenden Straßenseite lag. Ein Haus mit einer blau gestrichenen Fassade, in dessen Erdgeschoss sich ein Antiquitätenladen befand. Es gab eine schmale Hofeinfahrt direkt neben der Ladentür, und genau in dieser Einfahrt verschwand soeben der kleine Finley Stanford.
Sie schien sich an seiner Gestalt förmlich festzusaugen.
John war sich sicher. Er war sich vollkommen sicher. Er hatte sie. Sein Plan war gut gewesen. Die Sehnsucht einer Mutter. Und die Klavierstunde. Die sicher eine ganz eigene Sache zwischen Mutter und Sohn gewesen war, Lizas Wunsch und Finleys Bereitwilligkeit, ihn ihr zu erfüllen. Die Donnerstagnachmittage hatten ihnen beiden gehört. Sie hatte ihn abgeliefert, hatte ein paar Einkäufe erledigt, war etwas früher zurückgekehrt, um die letzten zehn Minuten zuzuhören. War dann mit ihm vielleicht noch einen Kakao trinken gegangen, oder sie hatten im Sommer ein Eis zusammen gegessen.
John konnte das spüren. Er konnte das an der Haltung der Frau sehen und an der Trauer in ihrem Gesicht, die sich selbst hinter Brille, Schal und Mütze nicht vollständig verstecken ließ.
Er setzte sich in Bewegung.
Entweder war er zu hastig gewesen, zu abrupt, oder Liza Stanford hatte wie alle Fluchttiere einen sechsten Sinn für drohende Gefahren entwickelt. Sie schrak zusammen, schaute sich um und trat dann blitzartig den Rückzug an. Sie war so schnell verschwunden, dass es den Anschein hatte, als sei sie nie da gewesen.
John rannte jetzt. Er war zu unvorsichtig gewesen, zu ruckartig. Diese Frau lebte in der Angst, erkannt und entdeckt zu werden. Sie hielt tausend unsichtbare Antennen in jede Himmelsrichtung um sich herum aufgerichtet. Sie hatte sofort gewusst, dass jemand sie ins Visier genommen hatte.
Er blieb stehen, weil er sie nicht mehr sehen konnte. Es war zum Verrücktwerden. Sie war fast zum Greifen nahe gewesen. Hätte er es ein bisschen geschickter angestellt … Er unterdrückte einen Fluch und den Wunsch, mit dem Fuß gegen die nächste Hauswand zu treten. Er war wütend, vor allem auf sich. Sie war ihm entwischt, und was das Schlimmste daran war: Sie würde sich über Wochen nicht mehr in der Nähe ihres Sohnes blicken lassen. Und wenn sie fast starb vor Sehnsucht. Sie würde das Risiko so rasch nicht mehr eingehen.
Es half ihm nicht, wenn er sich seinem Ärger und seiner Enttäuschung hingab, er musste ruhig bleiben und überlegen. Es gab die Möglichkeit, dass sie mit dem Auto hierhergekommen war, und dann hatte sie es wahrscheinlich in einer der Seitenstraßen geparkt. Was bedeutete, dass sie auf die High Street hinausfahren musste, denn ringsum gab es fast nur Einbahnstraßen. Wenn er sie dabei erkannte, konnte er sich vielleicht an ihre Stoßstange heften.
Es war die einzige kleine Chance, die er noch hatte. Sie konnte genauso gut für einige Stunden in der Vielzahl von Läden und Cafés untertauchen und später von irgendeiner entfernt liegenden Bushaltestelle aus den Heimweg antreten. Falls sie nicht ohnehin zu Fuß ging.
Er lief zu seinem Auto zurück, das er ebenfalls in einer Seitenstraße und noch dazu im Parkverbot abgestellt hatte. Er stieg ein und fuhr, so weit er konnte, nach vorne, um die Straße vor sich genau überblicken zu können. Wenn Liza hier vorbeikam, würde er sofort aufschließen können. Er hoffte nur, dass nicht ausgerechnet jetzt ein anderes Fahrzeug hinter ihm auftauchen würde und abbiegen wollte, denn dann hätte er weiterfahren müssen und nicht länger warten können. Er erntete jede Menge empörter Blicke von Passanten, die die Straße entlangkamen und einen Bogen um ihn herum laufen mussten, was sie gefährlich weit auf die Fahrbahn zwang. Ein Mann schlug wütend auf die Kühlerhaube seines Autos. John zeigte ihm den Mittelfinger.
Angespannt schaute er jedem Auto entgegen, das sich ihm von der linken Seite näherte. Wenigstens schneite es nicht, ein
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