Beobachter
weder die Anrufe annahm noch sich zurückmeldete. Aber dann? Wie sollten sie sie jemals finden?
Luke Palm würde ebenfalls den Kontakt suchen, spätestens dann, wenn es Interessenten für das Haus gab oder Fragen zu dem einen oder anderen Detail aufkamen. Er wusste zumindest, dass sie an jenem Abend zu ihrer Freundin gezogen war – wobei er deren Namen und Identität nicht kannte. Allerdings ihre Adresse, er hatte sie schließlich dort abgesetzt. Würde er sich an die Polizei wenden, weil ihm ihr Verschwinden seltsam vorkam?
Und dann?
Sie hatte John gesagt, dass sie sich in ein Hotel auf dem Land zurückziehen wollte. Wenn er das der Polizei mitteilte, würde man ihr Verschwinden vielleicht gar nicht weiter untersuchen: Man würde annehmen, dass sie ihrem Plan gefolgt war und offensichtlich nicht gestört werden wollte. Genau das, was man bei einer traumatisierten Frau, deren Ehemann ermordet worden war, erwarten konnte. Allerdings stand ihr Auto in der Garage. Aber würde überhaupt jemand dort nachsehen? Außerdem konnte sie auch den Zug genommen haben. Bei den derzeitigen Witterungsverhältnissen durchaus vorstellbar.
Einen Hoffnungsschimmer gab es: Samson Segal, der Blödmann, dem sie ihre augenblickliche heikle Lage verdankte, war aus vollkommen unerfindlichen, aber ganz offensichtlich goldrichtigen Gründen darauf gekommen, dass Tara Caine eine Gefahr darstellte. Aber was würde er letztlich mit diesem Wissen anfangen?
Was hatte Tara vor? Sie hätte sie leicht auf der Stelle, noch im Haus, erschießen können. War es ein gutes Zeichen, dass sie es nicht getan hatte? Nicht unbedingt, entschied Gillian verzweifelt. Tara war nicht dumm. Sie hatte die Warnung auf dem Anrufbeantworter gehört. Sie wusste, dass Luke Palm mitbekommen hatte, wohin Gillian in jener Nacht geflüchtet war. Auch mochten Nachbarn ihre und Gillians Ankunft am Nachmittag beobachtet haben. Hätte man irgendwann in den folgenden Tagen Gillians Leiche in ihrem Haus gefunden, wäre Tara zumindest eindringlich befragt worden. Die Situation hätte kritisch für sie werden können. Nein, Tara wollte genau das tun, was sie angekündigt hatte: einen sicheren Ort finden und dann überlegen, wie sie nun am besten weiterverfuhr. Die Dinge waren ihr aus dem Ruder gelaufen. Sie hatte sich wegen Luke Palm verquasselt, und dann war noch Samsons Anruf erfolgt.
Inzwischen hatte sie ihrer einstigen Freundin gegenüber praktisch schon ein Geständnis abgelegt. Was darauf schließen ließ, dass sie Gillian nicht als jemanden sah, der noch die Gelegenheit haben würde, dieses Wissen weiterzugeben.
Sie kann mich gar nicht laufen lassen, dachte Gillian, sie kann jetzt nur noch versuchen, mich auf eine Art verschwinden zu lassen, bei der kein Verdacht auf sie fällt. Um etwas anderes kann es ihr nicht gehen.
Bei diesem Gedanken fiel ihr das Atmen schlagartig noch schwerer. Die Decke schien sich bleischwer auf ihr Gesicht zu pressen, das Klebeband erstickte sie nicht nur dadurch, dass es ihren Mund grausam verschloss, sondern auch mit dem betäubenden Geruch nach Klebstoff, den es abgab. Das Auto fuhr an, stoppte, fuhr an. Stadtverkehr. Früher Freitagabend. Sie würden Stop-and-go fahren, bis sie die Stadtgrenze erreicht hatten, mindestens. Auch auf den Autobahnen konnte es Staus geben. Das Schlimme daran war die übelkeitauslösende Wirkung. Die Hitze, der Geruch, das Geruckel des Wagens ließen Gillians Magen Kapriolen drehen. Sie konnte von Glück sagen, dass sie den ganzen Tag über kaum etwas gegessen hatte. Trotzdem würde sich der Brechreiz steigern.
Denk nicht daran, ermahnte sie sich unter Aufbietung aller Willenskraft. Konzentrier dich auf etwas anderes.
Gedämpft konnte sie die Stimme eines Radiomoderators vernehmen. Er verlas gerade den Wetterbericht. Es würde sehr kalt werden in den kommenden Tagen. Neuschnee war nicht zu erwarten, dennoch empfahl er den Autofahrern, daheimzubleiben, wenn sie nicht unbedingt nach draußen mussten. Die Räumdienste kämpften noch mit der Hinterlassenschaft des letzten Schneeeinbruchs.
Dann setzte Musik ein.
Gillian glaubte sogar zu hören, dass Tara die Melodie mitsummte.
Man bekommt immer eine zweite Chance, dachte sie, halte dich bereit, deine zu nutzen.
Sie schob den Gedanken beiseite, der sich ihr sofort aufdrängte: Blöder Spruch, das mit der zweiten Chance. Es stand nirgendwo geschrieben, dass man die bekam.
Manchmal hatte man nicht mal eine einzige.
12
Er hatte erwartet, dass bei Tara Caine
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