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Beobachter

Beobachter

Titel: Beobachter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Link
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immer auf dieser Frau lasteten – Jahrzehnte, nachdem das für sie wahrscheinlich Unfassbare geschehen war. »Es war ein ganz normaler Tag, er arbeitete in seiner Fahrradwerkstatt hinten bei uns im Hof, ich kam von der Schule und lief gleich zu ihm. Er sah mich kommen, richtete sich auf, lächelte mich an und fiel um. Einfach so. Im Krankenhaus ist er dann gestorben. Ein paar Stunden später.« Sie bewegte unruhig die Hände. »Verdammt, ich hätte an Zigaretten denken sollen. Ich bräuchte jetzt dringend eine. Scheiße!«
    Ihr Schmerz verwandelte sich in Wut, und zwar in rasantem Tempo. Gillian empfand das als beängstigend. Ohnehin hatte sie das Gefühl, dass Tara zu einer Art emotionalem Pulverfass geworden war. So hatte sie die Freundin früher nie erlebt. Tara war immer sachlich gewesen, ausgeglichen. Offenbar hatte sie eine perfekte Maske getragen. Die elegant gekleidete, gut geschminkte und frisierte, immer beherrschte und überlegte Staatsanwältin. Eine Frau, die sich in allen Belangen des Lebens fast ausschließlich von ihrem Verstand steuern ließ.
    Wann habe ich sie je aufgeregt oder außer sich erlebt?, überlegte Gillian. Ihr fiel ein Moment ein, der noch nicht allzu lange zurücklag: Sie hatte Tara über Johns Vorgeschichte aufgeklärt. Es war nicht so, dass Tara darüber regelrecht explodiert wäre, aber für ihre Verhältnisse war sie schon ziemlich aus der Fassung geraten. Lag dort ein Schlüssel?
    Wenn ich es nur wüsste!
    »Tara«, sagte sie, »ich bin deine Freundin. Und was immer geschehen ist …«
    »Spar dir das«, sagte Tara kalt. »Du warst meine Freundin, Gillian. Früher. Aber ich habe mich von Anfang an in dir getäuscht. Du bist ein bisschen wie meine Mutter, und das ist so ziemlich das Schlimmste, was ich über einen Menschen sagen kann. Meine Mutter war eine richtig nette und umgängliche Frau, und ich glaube, niemand hätte gedacht, sie könnte zu etwas wirklich Bösem in der Lage sein. Jeder mochte sie.«
    »Deine Mutter … war nicht so nett, wie alle dachten?«, fragte Gillian sanft. Sie konnte jetzt deutlich spüren, dass sich das Klebeband lockerte. Am liebsten hätte sie wild mit den Armen geruckt, beherrschte sich aber. Solange Tara sowohl ein Messer als auch eine Pistole neben sich liegen hatte, würde sich Gillian auch mit freien Händen noch in der unterlegenen Position befinden.
    »Meine Mutter war schwach. Ich habe das lange Zeit nicht bemerkt, weil mein Vater ihr Kraft verlieh. Aber als er tot war, da zeigte sie ihr wahres Gesicht. Wurde zu einem Tag und Nacht heulenden Jammerlappen. Konnte dies nicht, konnte jenes nicht. Ihre Nerven, ihre Gesundheit. Mein Vater hatte eine Lebensversicherung abgeschlossen, die uns zunächst über Wasser hielt, aber glaubst du vielleicht, meine Mutter hätte diese Zeit genutzt, um sich einen Job zu suchen? Irgendetwas zu tun, um ihr Leben und das ihrer Tochter wieder in geordnete Bahnen zu bringen? Nein, sie saß nur in der Ecke und weinte sich die Augen aus und wusste nicht, wovon wir von nun an leben sollten. Ich war acht! Ich konnte ihr nicht helfen. Ich war überfordert.«
    »Aber irgendwie …«
    »… ging es weiter, meinst du?« Tara nickte. »Ja, es ging weiter. Nachdem meine Mutter genug geheult hatte, fiel ihr nämlich ein geradezu genialer Ausweg ein. Eigentlich der klassische Ausweg für eine Frau wie sie. Sie angelte sich den nächsten Kerl. Sie konnte einfach nicht ohne Mann. Und sie sah nicht schlecht aus damals. Sie war Mitte dreißig und recht ansehnlich. Sie hätte unter einer ganzen Reihe Männer auswählen können. Netter, sympathischer Männer.«
    Tara griff nach dem Messer, mit dem sie einige Zeit zuvor Gillians Fußfesseln durchschnitten hatte. Langsam fuhr sie mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand daran entlang. Gillian sah, dass auf dem Daumen ein feiner Riss entstand, aus dem Blut trat.
    »Aber sie wählte Ted Roslin. Wahrscheinlich, weil er ihr wirklich wild den Hof machte, sie mit allen möglichen Verführungskünsten umschmeichelte. Er gab ihr das Gefühl, eine fantastische Frau zu sein. Dass er nichts hatte, nichts darstellte, das interessierte meine Mutter irgendwann gar nicht mehr. Sie war hin und weg. Kurz vor meinem neunten Geburtstag haben sie geheiratet.«
    Das Blut trat nur langsam aus dem zarten Spalt. Aber es wurde stärker.
    »Doch dann folgte auch schon der große Frust für sie. Ich glaube, Ted Roslin hatte mit meiner Mutter einen ziemlich guten Fang gemacht. Das Haus gehörte ihr, und er

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