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Beobachter

Beobachter

Titel: Beobachter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Link
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abkühlen.«
    »Du warst auch als Kind schon hier?«, hakte Gillian nach. Tara sah normaler aus, während sie in harmlosen Worten über ihre Kindheit sprach. Ihre Augen blickten wach und lebendig drein, nicht starr und stumpf wie am Vortag daheim in Thorpe Bay, als Samson Segal mit seinem Anruf alles vermasselt hatte. Gillian begriff, dass viel davon abhing, Tara nicht wieder in diesen seltsamen Zustand abgleiten zu lassen.
    Tara blickte sich um. »Ja. Mein Vater hat die Hütte gebaut. Ganz allein.«
    »Er muss sehr geschickt gewesen sein.«
    »Er konnte alles, wofür man eine handwerkliche Begabung brauchte«, bestätigte Tara. Sie hatte jetzt einen Schlüssel aus der Tasche gefischt und versuchte, das Schloss zu öffnen. Es gelang ihr nicht sofort.
    »Hier ist jahrelang niemand mehr gewesen«, murmelte sie.
    »Deine Eltern kommen nicht mehr hierher?«
    »Mein Vater ist schon lange tot. Ich war acht, als er starb.«
    »Oh … das tut mir leid.«
    Gillian wurde plötzlich klar, dass sie nie darüber gesprochen hatten. Seltsam, dass ihr das nie aufgefallen war. Tara kämpfte mit dem Schloss, aber Gillian fühlte sich so erschöpft, dass sie heftig gegen das Bedürfnis ankämpfen musste, sich einfach in den Schnee fallen zu lassen und liegen zu bleiben. Obwohl Tara abgelenkt war, zog es Gillian in diesen Momenten nicht in Erwägung, eine Flucht zu riskieren. Ihr erschien jeder Gedanke daran sinnlos.
    Schließlich gab das Schloss nach und mit laut quietschenden Scharnieren schwang die Holztür auf.
    »Nach Ihnen«, sagte Tara ironisch und wies Gillian mit einer Handbewegung an, einzutreten.
    Eisige Kälte und die abgestandene, muffige Luft vieler Jahre empfing sie. Dämmerung, die es den Augen schwer machte, etwas zu erkennen.
    Es war, als betrete man ein Grab. Das war der erste, beklemmende Eindruck, der Gillian befiel. Tara knipste eine Taschenlampe an, die sie mitgebracht hatte, und machte sich an den Läden zweier Fenster zu schaffen, die ähnlich schwierig zu öffnen waren wie die Tür. Gillian konnte zwei übereck stehende Sofas erkennen und einen hölzernen Tisch dazwischen. Einen gusseisernen Ofen. Einen kleinen Schrank. Und eine Tür, die in ein weiteres Zimmer zu führen schien.
    »Auf den beiden Sofas haben meine Eltern immer geschlafen«, erklärte Tara. »Ich hatte die kleine Kammer dahinter.«
    Der erste Fensterladen schwang auf. Es wurde deutlich heller im Raum, aber dadurch offenbarte sich auch sein völlig heruntergekommener Zustand. An den Wänden wuchsen Moos und Schimmel. Die Sofas schienen in ihrer Auflösung begriffen, der Schaumstoff quoll aus ihnen heraus. Den Fußboden bedeckte stellenweise irgendetwas Glitschiges, über dessen Definition sich Gillian nicht im Klaren war; womöglich handelte es sich um Flechten, die sich hier angesiedelt hatten. Im Laufe der Jahre war die Feuchtigkeit durch alle Ritzen gedrungen, und da nie wieder jemand den Ofen in Betrieb genommen hatte, hatte der Raum nicht mehr austrocknen können.
    Unmöglich, hier zu wohnen. Aber Gillian schwante, dass sich Tara nicht groß um all das scheren würde.
    Der zweite Laden ging auf, und die Umgebung wurde noch trostloser.
    »Meinst du, wir könnten versuchen, den Ofen in Gang zu setzen?«, fragte Gillian.
    Tara zuckte mit den Schultern. »Wenn hinter der Hütte noch Holz gestapelt ist, dann vielleicht. Obwohl die Scheite ganz schön nass sein dürften. Setz dich doch«, sagte sie und nickte in Richtung der beiden Sofas.
    Gillian zögerte.
    »Setz dich!«, wiederholte Tara scharf.
    Gillian setzte sich. Unter ihrem Gewicht gab das Sofa vollkommen nach, und sie sank fast bis auf den Boden hinunter. Sie mutmaßte, dass allerlei Getier in der Schaumstofffüllung hauste. Maden und Würmer vielleicht. Wenn sie nicht erfroren waren. Sie betete, dass Letzteres der Fall sein möge.
    Tara verließ die Hütte, kam aber gleich darauf mit leeren Händen zurück. »Kein Holz da. Aus dem Feuer wird nichts.«
    Gillians Mut sank, wenn das überhaupt noch möglich war. Jetzt, da sie sich nicht mehr bewegte, fing sie entsetzlich an zu frieren, trotz des dicken Mantels, den sie trug. Tara hatte tatsächlich einen völlig abgelegenen Ort gefunden, kein Mensch würde sie hier entdecken. Es war ihr darum gegangen, Zeit zu gewinnen und nachzudenken. Das Ergebnis ihres Nachdenkens konnte letzten Endes nur die Erkenntnis sein, dass sie sich ihrer einstigen Freundin auf irgendeine Weise entledigen musste. Dann würde sie allein nach London zurückkehren,

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