Beobachter
zu rationalisieren, und nur untergründig wunderte er sich über seine Ruhe. Erst später ging ihm auf, dass er unter Schock gestanden haben musste.
Leise murmelte er den Polizeinotruf vor sich hin, während er die Stufen hinunterschlich. »Neun-neun-neun, neun-neun-neun …«
Auf keinen Fall durfte er diese Zahlen jetzt vergessen.
2
»Ich habe damals einen fürchterlichen Fehler gemacht«, sagte John, »und ich hätte mich in den Monaten danach jeden Tag selbst ohrfeigen können. Es war idiotisch. Sie war Studentin am Hendon Police College. Ich war Detective Inspector bei der Metropolitan Police. Sie machte ein Praktikum bei mir. Ich hätte unter gar keinen Umständen etwas mit ihr anfangen dürfen.«
Draußen fiel der Schnee in immer dickeren und dichteren Flocken. Die Welt schien untergehen zu wollen. Selbst hier, mitten in der Stadt, waren alle Geräusche verstummt. Es herrschte eine beinahe feierliche Stille.
Johns Schlafzimmer in der weitläufigen, höchst sparsam möblierten Altbauwohnung mitten in Paddington bestand aus einem Kleiderschrank und einer Matratze, die auf dem Boden lag. Es gab keine Vorhänge an den Fenstern, keinen Teppich auf dem Boden. Ein paar Zeitschriften lagen verstreut auf dem Parkett. In der Ecke stand eine halb leer getrunkene Flasche Mineralwasser.
Gillian hatte die Decken weggeschoben, weil ihr zu warm war, obwohl die Heizung nur wenig Wärme verströmte. Sie fühlte sich friedlich und entspannt, obwohl sie wusste, dass sie dabei war, sich in zahlreiche Probleme zu verstricken. Eines davon, und vielleicht das akuteste, war die Frage, ob es ihr gelingen würde, angesichts der hereinbrechenden Schneemassen wieder nach Hause zu kommen und auch noch rechtzeitig vor Tom da zu sein. Weniger akut, aber langfristig bedeutsam war die Situation, in die sie sich begeben hatte: Sie hatte eine Affäre mit einem anderen Mann begonnen. Es war unwahrscheinlich, dass sich daraus nicht eine Schwierigkeit nach der anderen entwickeln würde.
Nach all den Überlegungen, Zweifeln und Sorgen, mit denen sie sich in der Woche vor der Verabredung herumgeschlagen hatte, war dann alles schnell und fast zwangsläufig passiert. Sie hatte an Johns Wohnungstür geklingelt, und er hatte sofort geöffnet, ihre Hand genommen und sie hineingezogen, und er hatte freudig und erleichtert gewirkt, sie zu sehen.
»Bis eben«, sagte er, »habe ich noch gefürchtet, du kommst nicht.«
»Ich konnte nicht anders«, sagte Gillian. Sie hatte immer wieder überlegt, John abzusagen und das ganze Abenteuer im Sand verlaufen zu lassen, aber sie begriff jetzt, dass sie nie wirklich die Chance dazu gehabt hatte. Sie war bereits viel tiefer verstrickt, als sie gedacht hatte.
Er hielt noch immer ihre Hand. »Möchtest du einen Kaffee?«
»Danach«, sagte sie und dachte in der nächsten Sekunde: Oh Gott, Gillian, das hast du doch eben nicht wirklich gesagt! Jeder, der dich kennt, wäre entsetzt! Es ist dir ja selbst total peinlich.
Er stutzte, zog dann die Augenbrauen hoch. »Okay«, sagte er, »dann eben danach.«
Er hatte ihr aus dem Mantel geholfen, dann war er mit ihr in sein spartanisches Schlafzimmer gegangen. Gillian hatte fast ein Jahr lang keinen Sex mehr gehabt. Nichts bereute sie auf einmal so sehr wie ihre eigene Unverfrorenheit, mit der sie darauf gedrängt hatte, sofort mit John ins Bett zu gehen. Vermutlich würde sie sich völlig unbeholfen anstellen.
»Vielleicht … hätte ich doch lieber nur einen Kaffee«, murmelte sie.
Er lächelte. »Wie du willst.«
Sie trat einen Schritt zurück. Weshalb wurde sie in seiner Gegenwart immer zu einer anderen, als sie eigentlich war? Flirtete, gab sich provozierend, wagte sich wie selbstverständlich in die Offensive, sogar dann, wenn es um Sex ging. Um dann einen Rückzieher zu machen und sich plötzlich lächerlich zu fühlen.
»Ich weiß nicht. Ich weiß nicht, was ich will.«
Er sah sie abwartend an.
»Ich bin nicht so«, fuhr Gillian fort, »ich meine, nicht so, wie du mich erlebst. Wenn ich mit dir zusammen bin, sage und tue ich immer Dinge, die gar nicht zu mir passen. Ich bin dann eine Fremde. Ich weiß nicht, warum das so ist.«
Er streckte den Arm aus. Sacht zog er mit dem Finger eine Linie von ihrem Kinn über ihren Hals hinunter bis an den Ausschnitt ihres Pullovers. Gillian konnte nicht verhindern, dass ihr Schauer über den ganzen Körper liefen.
»Hast du mal überlegt, dass es andersherum sein könnte?«, fragte er. »Dass die Gillian, die gerade
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