Beobachter
Kaffeemaschine.
»Hier stimmt etwas ganz und gar nicht«, sagte Luke. Es tat ihm gut, wenigstens seine eigene Stimme zu hören.
Er durchquerte die Küche, trat in den Flur, schaltete auch hier das Licht ein.
»Mrs. Westley?«, rief er im Flüsterton und fragte sich gleich darauf, weshalb er sich eigentlich so leise verhielt. Er kannte die Antwort: Er hatte Angst, dass hier nicht einfach ein Unfall passiert war, sondern dass sich etwas viel Schlimmeres und Bedrohlicheres in dieser Einöde abgespielt hatte. Dass hinter all dem jemand steckte, der vielleicht noch gar nicht das Weite gesucht hatte. Der noch da war, entweder irgendwo in diesem alten, dunklen Haus oder in den Wäldern, die es so dicht umschlossen.
Es wäre besser, er würde verschwinden. Aber zuerst musste er Anne finden. Wenn er jetzt einfach wegrannte, würde er sich nie mehr selbst im Spiegel ansehen können.
Er fragte sich, ob es ein Fehler war, überall das Licht einzuschalten. Weithin sichtbar signalisierte er damit seine Anwesenheit. Aber wie sollte er sonst irgendetwas erkennen können? Er verfluchte seinen Einfall, hierherzukommen. Er könnte längst daheim sein, am Schreibtisch sitzen, eine schöne Tasse Kaffee neben sich. Stattdessen …
Ein kurzer Blick aus dem Wohnzimmerfenster zeigte ihm, dass sich der Schneefall weiter verstärkt hatte. Er würde zu allem Überfluss Probleme bekommen, sein Auto von dem Parkplatz zu manövrieren.
Er stieg die Treppe hinauf. Auf halbem Weg fiel ihm zum ersten Mal der eigentümliche Geruch auf.
»Verdammter Mist«, sagte er laut.
Er machte sich keine Illusionen: Es war Verwesung, was er roch.
Er fand Anne Westley im Bad, das sich direkt neben ihrem Schlafzimmer befand. Die alte Frau lag vor der Dusche quer über dem Frotteevorleger und richtete den Blick aus weit aufgerissenen, starren Augen an die Decke über sich. In ihrem unnatürlich weit aufgesperrten Mund steckte etwas, irgendetwas Kariertes, ein Tuch, ein Schal, Luke konnte es nicht genau erkennen. Ihre Nase war zugekleistert mit Paketklebeband. Auch ihre Handgelenke und Fußknöchel waren mit dem Band gefesselt. Es war nur allzu ersichtlich, dass Anne keinen Unfall gehabt hatte. Sie war auf brutalste Art ermordet worden. Ihr Mörder hatte sie erstickt, indem er alle Atemwege blockierte. Wie sehr mochte sie gegen den Stoff in ihrem Rachen gekämpft haben. Wie verzweifelt – und wie hoffnungslos.
Es konnte am 10. Dezember geschehen sein, jedenfalls stellte der Kalender in der Küche einen Hinweis darauf dar. Nachdem er gegangen war. Nachdem er ihr noch geraten hatte, die Haustür gut zu verschließen.
Luke Palm sank auf den Badewannenrand, denn seine Knie wurden plötzlich weich und er drohte das Gleichgewicht zu verlieren. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, sein Kreislauf werde schlappmachen und er würde gleich neben Anne auf dem Fußboden liegen. Er hatte Schweißausbrüche am ganzen Körper und im Gesicht. Er stützte den Kopf in die Hände, bemühte sich, die Tote nicht anzusehen, den Geruch nicht wahrzunehmen. Trotzdem tief durchzuatmen.
Die Schwäche verebbte.
Er hob den Kopf. Er sah, dass die Klinke der Badezimmertür seltsam schief herunterhing und dass der Beschlag um das Schloss herum völlig verrutscht war. Es sah aus, als habe jemand das Schloss aufgebrochen.
Er stöhnte leise, als ihm aufging, welches Drama sich hier vermutlich abgespielt hatte: Wie auch immer Annes Mörder ins Haus gelangt war, offensichtlich war es Anne gelungen, ihm zunächst zu entkommen. Sie war ins Bad geflüchtet, einen Raum, den sie abschließen konnte, hatte sich dort verbarrikadiert. Aber ihr Verfolger hatte nicht aufgegeben. Er hatte das Schloss zerstört und war in das Badezimmer eingedrungen.
Anne musste entsetzliche Todesangst ausgestanden haben. Eingeschlossen in diesem kleinen Raum, keine Möglichkeit, Hilfe herbeizutelefonieren, keine Chance auch, durch das Fenster nach Hilfe zu schreien. Wer hätte sie hören sollen? Und irgendwann begreifend, dass der andere gewinnen würde. Dass die Tür nicht standhalten konnte.
Luke stand auf, hoffte, dass ihn seine zittrigen Beine tragen würden. Er musste jetzt die Polizei anrufen. Hoffentlich funktionierte das Telefon, das, wie er sich erinnerte, im Wohnzimmer unten stand. Er hatte noch immer Angst, aber er sagte sich, dass Anne allem Anschein nach seit einer Woche tot war und es unwahrscheinlich war, dass ihr Mörder sich hier noch herumtrieb. Es gelang ihm, diese Dinge ruhig und vernünftig
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