Beraubt: Roman
sammelte sich. »Ich habe lange gebraucht, um wieder herzukommen, Mutter, aber du warst meinen Gedanken nie fern. Selbst im Krieg, gerade im Krieg, als ich Angst hatte, jeden Moment zu sterben. In diesen eisigen Schützengräben dachte ich an dich, Vater und William und an Sarah und das, was passiert war. Der Gedanke, dass du mich für einen Mörder hältst, war unerträglich. Ich versuchte mir vorzustellen, ich wäre wieder hier. Ich wünschte mir einen fliegenden Teppich, einen Flaschengeist, der mir einen einzigen Wunsch erfüllen würde. Irgendwas. Es tut mir leid, wie alles gekommen ist, Mutter. Dass ich weggegangen bin, ist nicht zu verzeihen. Tut mir leid.«
Mary Walker gab nicht zu erkennen, ob sie ihn gehört hatte, doch schließlich schlug sie die geschwollenen Augen auf und sah ihn an. »Danke«, sagte sie. Sie zupfte an ihrem Laken. »Gib mir bitte einen Schluck Wasser.«
Quinn erfüllte ihr den Wunsch, und dann winkte sie ihn näher.
»Hör mir zu«, flüsterte sie. »Ich habe nachgedacht. Quinn, ich dachte, ich könnte alles aus Büchern lernen. Nicht nur über die Gegenwart, auch über die Vergangenheit. Die Bücher ermöglichten mir, mit interessanten Menschen zu reden und alles über andere Gegenden zu erfahren. Und ich habe viel Wunderbares über ferne Welten gelernt. Über die Kriege des Altertums und untergegangene Städte, über fremde Könige und Königinnen. Ich weiß alles über die sieben Weltwunder.« An dieser Stelle hustete sie eine Weile. »Aber obwohl man aus Geschichten viel über die Welt lernen kann, dienen sie vielleicht auch dazu, sich vor ihr zu verstecken. Verstehst du?«
Quinn spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Er nickte.
»Denn was nützt es mir jetzt«, fuhr sie mit kaum hörbarer Stimme fort, »alles über die Hängenden Gärten von Babylon zu wissen? Oder dass Catherine Howard die fünfte Frau Heinrichs VIII. war, jetzt, wo ich auf dem Totenbett liege …«
»Mutter! Du liegst nicht auf dem Totenbett. Sag so was nicht. Bitte.«
»Sag’s mir: Was nützen Geschichten?«
Quinn nahm den nassen Lappen aus der Emailschüssel auf dem Nachttisch und drückte ihn auf ihre fiebrige Stirn. Als er ihn ins lauwarme Wasser zurücklegte, zitterten seine Hände.
»Weißt du, was ich meine? Quinn?«
Er stand auf. »Mutter, du hast Fieber. Ich hole frisches Wasser. Das hier ist nicht viel kühler als du.«
Mit schwachen Fingern griff seine Mutter nach seinem Bein.
Er starrte sie entsetzt an, während es ihm langsam dämmerte. »Mein Gott. Du glaubst mir immer noch nicht, stimmt’s?«
»Das ist es nicht …«
»Sondern?«
Sie brauchte lange, um zu antworten. »Eine Mutter weiß, wenn ihr Kind ihr etwas verschweigt. Quinn, erzähl mir, was du an jenem Tag gesehen hast. Ich muss es wissen. Bevor ich sterbe. Was hast du gesehen?«
Er blieb mit der Schüssel in der Hand stehen. Vor diesem Wunsch hatte er sich gefürchtet.
»Quinn?«
»Es gibt nichts mehr zu erzählen. Ich hab sie gefunden, und sie war schon tot. Der Mörder war längst verschwunden.«
»Also gut.« Sie tastete im Bett herum und drückte ihm dann eine Teedose in die Hand. »Hier. Nimm das. Es sind dreißig Pfund, vielleicht auch mehr. Alles, was wir haben. Nimm es und geh, Quinn.«
Er öffnete die Dose. Tatsächlich lag darin ein Bündel Geldscheine, das mit einer Schnur fest zusammengebunden war.
»Du solltest von hier verschwinden, bevor sie dich entdecken. Verlass uns, mein Sohn. Geh und führ dein eigenes Leben. Du bist frei. Dieser Ort hat uns kein Glück gebracht …«
»Aber ich kann dich nicht verlassen. Ich kann das nicht annehmen.«
»Das kannst du und wirst du. Ich habe gebetet, dass du zurückkommst, aber jetzt will ich, dass du gehst, solange du es noch kannst. Mit deiner Rückkehr hast du alles getan, was nötig war. Wenn sie dich finden, bringen sie dich um. Ich muss wissen, dass du außer Gefahr bist. Bitte. Ein Kind habe ich schon verloren, ich kann nicht ertragen, noch eins zu verlieren. Kannst du das nicht verstehen, Quinn?«
Er nahm das Bündel aus der Dose und hielt es in der Hand. Noch nie hatte er so viel Geld gesehen. Es war ein kleines Vermögen. Er starrte es lange an. Seine Mutter hatte recht; es war nur eine Frage der Zeit, bis sein Onkel ihn und Sadie fand, und dann war alles verloren.
Er beugte sich vor, um die heiße Stirn seiner Mutter zu küssen. »Bist du dir sicher, Mutter?«
»Ja.« Sie rang nach Atem.
»Kommst du auch klar?«
»Geh so bald wie möglich.
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