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Beraubt: Roman

Beraubt: Roman

Titel: Beraubt: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Womersley Chris , Thomas Gunkel
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verändert hatte. Die Welt sah noch genauso aus, doch durch den Mord an Sarah war sie für immer aus der Bahn geworfen. Voller Angst lehnte er sich an einen Baum. Wie in einer anderen Art von Paradies flimmerte und schimmerte hier die Luft, als wäre es ein ständiger Kampf, die Vielfalt des Lebens zu umfassen, die es bewahren musste. Hier konnte man sich gut den Beginn der Zeit vorstellen, aber vielleicht auch ihr Ende.
    Er setzte sich auf einen im Schatten liegenden Baumstumpf und knöpfte seine Uniformjacke auf. Der Boden war hart und heiß, aber das war eine angenehme Abwechslung zu dem Schlamm in Frankreich, in dem man manchmal kaum vorwärtskam. Er zupfte Distelkletten von seinen Socken und den Hosensäumen. Dann schlug er sich gegen die Schläfe, um die Benommenheit zu beseitigen, die sich dort angesammelt hatte und die Welt in weite Ferne rückte, sie so unbegreiflich machte wie nie zuvor. Er trank einen Schluck aus seiner Wasserflasche und blickte auf, entsetzt, drei Meter entfernt einen Mann mit einem Gewehr stehen zu sehen. Quinn dachte an seinen Revolver, machte sich aber klar, dass es unmöglich war, ihn schnell hervorzuziehen.
    Der Mann grinste, hob die Hand zum Gruß und kam mit raschelnden Schritten durch das herumliegende Laub auf ihn zu. An seiner Taille baumelte ein schauriger Gürtel aus blutigen, zottigen Kaninchenkadavern.
    »Tach«, sagte er.
    Quinn war zu verdutzt, um sprechen zu können. Wasser tröpfelte ihm vom Kinn. Er dachte daran zu flüchten. Als er aufstand, erkannte er, dass es der harmlose Trottel Edward Fitch war, der in dieser Gegend dafür berüchtigt war, unaufhörlich Fragen zu stellen und sich an das genaue Datum von allem, was in Flint passierte, sowie an das jeweilige Wetter zu erinnern. Quinn fluchte leise.
    Edward trat näher. Er war stämmig und begierig, ein ausgehungerter Eber von einem Mann. Er musterte Quinn von Kopf bis Fuß, leckte sich die Lippen und murmelte irgendwas. Quinn legte die Hand ans Ohr, um zu zeigen, dass er ihn nicht richtig verstanden hatte. Seine Schwerhörigkeit zwang ihn, sein Gehör bei jedem Menschen – dessen Redeweise und Lautstärke entsprechend – neu einzustellen, um ihn verstehen zu können.
    »Ich hab gefragt: Waren Sie im Krieg?«
    »Ja.«
    »Sieht aus, als hätte es Sie richtig erwischt«, sagte Edward und zeichnete an seinem eigenen schmutzigen Kinn die Narbe in Quinns Gesicht nach.
    Quinn errötete. Er wusste, dass sie schwer zu übersehen war. Sie ähnelte einem Klecks Haferbrei. »Ja.«
    Edward schüttelte den Kopf. »Aber ich hab schon schlimmere gesehen. Manche sehen wirklich furchtbar aus. Jack Williams ist richtig übel zugerichtet. Schöne Uniform haben Sie da. Wie ist es gelaufen? Ein paar Boche erledigt?«
    »Der Krieg ist vorbei.«
    Edward drückte das Kinn an die Brust, um über diese Information nachzudenken. Quinn hatte den Eindruck, dass der Tölpel ihn nicht erkannt hatte. Er drückte sich den Hut auf den Kopf und bückte sich, um seine Sachen zusammenzupacken. Noch konnte er davonkommen.
    »Wo wollen Sie hin?«
    Quinn richtete sich auf. »Ich … suche nach Arbeit.«
    »Flüchten Sie vor der Seuche?«
    »Welcher Seuche?«
    »Dem Schwarzen Tod.«
    Quinn hatte dieses Gerücht schon gehört. Er schüttelte den Kopf. »Es ist nicht die Beulenpest. Es ist die Grippe. Sie wird als Influenza bezeichnet.«
    Edward wischte sich mit der Hand über den Mund und hielt dann zwei Finger hoch. »Ginny Reynolds ist in zwei Tagen gestorben. Wie aus heiterem Himmel. Und sie war gesund wie ein Pferd. Sie nennen es Grippe, aber jeder weiß, dass es was anderes ist. Was Schlimmeres. Und Mr. McMahon. Dem lief Blut aus den Augen. So was gibt’s bei Grippe nicht, Mann.« Als Edward seinen Gürtel festzurrte, stob ein Schwarm Fliegen davon und ließ sich dann wieder auf den Kaninchenkadavern nieder. Mit dem Kruzifix, das an seinem Hals funkelte, seinem verschwitzten Hut, der schmutzigen Weste und dem Messer, das in seinem Gürtel steckte, sah er aus wie ein mittelalterlicher Einsiedler.
    Quinn hob seinen Tornister auf. »Sie müssen Vertrauen haben«, sagte er, auch wenn es nicht überzeugend klang. »Gott kümmert sich um uns.«
    »Gott?«, fragte Fitch spöttisch. »Bin nicht mal sicher, dass es ihn gibt.«
    Quinn machte ein finsteres Gesicht. Er dachte daran, was manche Leute über Edward Fitch gesagt hatten, als er noch ein Kind war: dass seine Mutter ungläubig sei, dass sie für Edwards Missbildung selbst die Verantwortung trage, weil

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