Bereue - Psychothriller (German Edition)
nicht erkennen konnte. Eine tiefe Ruhe breitete sich in seinem Inneren aus.
Zwei Minuten vor halb vier postierte er sich auf der anderen Straßenseite mit Blick auf Ben Billers Auto. Die Baseballkappe tief in die Stirn gezogen lehnte er sich auf dem Fahrersitz zurück und wartete.
Vierunddreißig Minuten später kam Biller aus Annelies Haus. Zielstrebig ging er auf sein Auto zu. Er fand die Botschaft. Seine Hand schloss sich um Annelies Kettenanhänger mit dem Yi nyang-Zeichen, den sie immer getragen hatte. Selbst auf die Entfernung war nicht zu übersehen, dass er verstand. Die wenigen Worte auf dem Zettel überflog Biller und zerknüllte das Papier. Doch statt es wegzuwerfen, schob er es in die Hosentasche. Die Faust mit dem Anhänger gegen die Stirn gepresst stand Biller regungslos auf dem Gehweg. Er würde den Anhänger bei sich tragen, dieses heidnische Symbol. Und er würde endlich tun, was er tun musste.
Auf keinen Fall durfte Jakob den entscheidenden Moment verpassen. Und der rückte immer näher. Er wollte Biller in die Augen sehen. In diesem kurzen Moment, der bei den anderen nicht länger als eine Sekunde gedauert hatte, bevor der Blick brach.
Er hatte Annelie nicht entführen wollen. Sie hatte doch die Nächste sein sollen. Aber er konnte nicht zulassen, dass sich die beiden verbündeten. Ben hätte dank ihrer Unterstützung neuen Lebensmut gefunden. Andererseits war Annelie genau das richtige Werkzeug, um Ben Biller zu zeigen, um was es ging. Nur was sollte er mit Annelie machen. Er musste einen Weg finden, sie von der Unausweichlichkeit ihres selbst gewählten Todes zu überzeugen. In ihren Augen hatte er gelesen, dass sie begriffen hatte, was ihre Schuld war. Ihre Angst zu spüren, war überraschend gewesen. Es hatte ihn erregt, diese Macht über ihre Gefühle.
Es gab so viele Formen der Angst und er hatte sie fast alle verspürt, selbst die Angst vor dem bevorstehenden Tod. Zum ersten Mal, als ihn zwei ältere Mitschüler auf der Schultoilette gepackt und seinen Kopf in die Kloschüssel gezwungen hatten.
Sie betätigten die Spülung. Es war ein Druckspüler, sie hatten endlos Wasser. Das kalte Wasser rauschte um sein Gesicht, drang in seine Ohren, seine Nase. Instinktiv hielt er die Luft an, lange. Seine Lunge brannte. Er wusste, dass er atmen musste, jetzt. In dem Moment, als sich sein Körper entspannte und sein Geist leicht wurde, rissen sie seinen Kopf heraus. Ihr Lachen drang dumpf in seinen Schädel. Hustend brach er über der Kloschüssel zusammen und würgte sein Frühstück heraus. “Sieh nur, wie Speckie kotzen kann!” Sie lachten und traten gegen seine Beine. “Sollen wir ihn in seine Kotze tauchen?”
Die beiden hatten ihm gezeigt, dass es nicht der Tod war, wovor man sich fürchten musste. Es war das Leben.
36
Amseln sangen in den Bäumen. Autos fuhren vorbei. Ein Schäferhund zog sein Herrchen über den Gehweg. Alles war normal, alles, bis auf das Grauen in seiner zitternden Hand. Annelies Kettenanhänger mit diesen verschlungenen Augen und die wenigen gedruckten Worte auf dem Zettel in Arial 12: Du weißt was Du zu tun hast. Bis morgen Mittag 12.00 Uhr.
Was mit Annelie passieren würde, wenn er es nicht tat, überließ der Scheißkerl Bens Fantasie.
Er starrte auf den Anhänger. Die feine Silberkette war nicht gerissen.
Die Faust auf die Stirn gepresst versuchte er die Bilder vor seinem inneren Auge zu verdrängen und nachzudenken, was er tun konnte. Außer sich umzubringen. Dieser Wahnsinnige musste ihn bis hierher verfolgt haben. Er selbst hatte ihn zu ihr geführt. Es war seine Schuld. Annelie, wie lange war sie schon in seiner Gewalt? Er schob Nachricht und Anhänger in die Hosentasche und holte sein Handy aus dem Wagen. Ein kurzer Anruf im Café Alternativ bestätigte seine Befürchtung: Sie war nicht aufgetaucht. Das hieß, sie war seit knapp zehn Stunden verschwunden.
Es durfte ihr nichts geschehen, nicht ihr. Alles nur das nicht. Er schloss die Augen. Ein Bild blitzte auf. Annelie in einem Verlies, gefesselt. Den Mund zum stummen Schrei geöffnet, war sie dem G esichtslosen hilflos ausgeliefert. Blut lief über ihre weiße Haut, vermischte sich mit ihren Tränen.
Er riss die Augen auf. Sein Magen rebellierte.
Das Ultimatum lief in neunzehn Stunden ab. So viel Zeit hatte er, um sie zu retten. Sollte er sie bis morgen Mittag nicht gefunden haben, musste er sich selbst töten, daran gab es keinen Zweifel mehr.
Er biss sich auf die Lippen. Wenn er tot war,
Weitere Kostenlose Bücher