Bereue - Psychothriller (German Edition)
Weg entlang, eilig, den Kopf gesenkt.
War das Jakob?
46
Mit dem Rücken an die Tür gelehnt versuchte er seinen Atem in den Griff zu kriegen.
Mutter hatte Ben Biller nicht hereingelassen. Im Geist schickte er ein Dankesgebet gen Himmel. Seine Mission stand unter himmlischem Schutz.
Aber er hatte ihn gefunden. Das hätte nicht passieren dürfen. Was wusste er?
Die Fingernägel schmerzhaft in die Kopfhaut verkrallt sortierte er seine Gedanken. Er musste nach Annelie sehen. Ursprünglich hatte er warten wollen, bis Mutter schlief. Alles an ihm vibrierte. Warten konnte er jetzt nicht.
Der rote Punkt auf dem Display pulsierte in einer Querstraße. Er bewegte sich nicht. Was tat er? Wartete er auf ihn? Aber der Wagen war über hundert Meter entfernt. Bestimmt würde er gleich losfahren.
Er löste seine Finger von der Kopfhaut und leckte das Blut von den Nägeln.
Im Vorbeigehen griff er nach dem Rucksack mit der Notfallausrüstung und öffnete fast geräuschlos die Zimmertür. Der Abendgottesdienst vom Bibel-Sender schallte herüber. Auf Socken schlich er an der offenen Wohnzimmertür vorbei und wagte kaum zu atmen. Erleichtert schlüpfte er in die Turnschuhe. Er stieß gegen den Regenschirm, der in der Ecke lehnte. Sein Versuch, ihn aufzufangen, scheiterte. Scheppernd fiel das Scheißteil auf die Fliesen.
“Jakob?”
Die Hand schon auf der rettenden Klinke rotierten seine Gedanken. Mutter. Annelie. Hin und her gerissen biss er sich auf die Unterlippe, bis es schmerzte.
Er hieb auf die Klinke und riss die Tür auf.
“Der Gottlose flieht, auch wenn niemand ihn jagt”, rief Mutter aus dem Wohnzimmer herüber.
“Der Gerechte aber ist furchtlos wie ein junger Löwe”, vervol lständigte er tonlos das Zitat aus Sprüche Kapitel 28, Vers 1 .
Er stürmte hinaus auf den dunklen Gang. Die Tür fiel hinter ihm unüberhörbar ins Schloss. Ohne das Licht anzuschalten, lief er die ersten Stufen hinunter. Auf der Treppe zum Erdgeschoss setzte er sich auf eine Stufe und wartete. Nichts passierte. Es war dunkel. Es war vollkommen still. Da war nur das Geschnaufe, das aus seinem Mund drang.
Ruhig, befahl er sich. Ganz ruhig. Ben Biller hatte Mutter gefunden. Nur ihr Name stand im Telefonbuch. Wenn er sie nur fragen könnte, was er von ihr gewollt hatte. Das konnte doch kein Zufall sein. Was hatte das zu bedeuten. Klapperte er alle Leute ab, die ihm einfielen? Aber das sollte er nicht. Warum begriff er nicht endlich, dass das Ende seines bedeutungslosen Lebens gekommen war?
Die Augen geschlossen konzentrierte er sich auf seine Mission. Es durfte nichts schiefgehen. Und von einem Ben Biller ließ er sich nicht seine Pläne durchkreuzen. Niemals. Ben Biller war schuldig. Er musste bereuen, er musste büßen.
Tief zog er sich die Mütze ins Gesicht und stand auf. Hetzte die letzten Stufen im Dunklen hinunter. Zur Haustür raus. Über den Gehweg zum Auto. Weiter zur Metzgerei.
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Verzweifelt zerrte sie an dem Seil, das ihre Hände auf den Rücken fesselte. Es schnitt in ihre Haut, durch ihre nach hinten gedrehten Arme zogen dumpfe Schmerzen. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Die Schwärze um sie herum lebte. Das Rascheln, Krabbeln und Fiepsen wurde lauter und lauter, kam näher und näher. Sie spürte etwas in ihren Haaren. Es bewegte sich. Schreiend schüttelte sie den Kopf. Die Haare flogen. Doch es löste sich nicht. Nur das verdammte Geraschel verstummte für einen Moment, nur um sofort wieder anzuschwellen.
Es klang wie ein Nachhall aus einer fernen Vergangenheit. Sie hörte diese Geräusche wieder mit ihren zehnjährigen Kinderohren.
Zusammen mit ihrer besten Freundin Sybille stromerte sie durch den Wald, bewunderte Pilze, stupste Käfer an. Sie merkten zu spät, dass die Dämmerung hereinbrach und dass sie den Rückweg nicht wussten.
„Wir müssen zurück!“, rief Sybille und blieb stehen.
Annelie wäre beinahe in sie hineingelaufen. „In welcher Richtung ist das Landschulheim?“
Sie drehten sich um und suchten ihre Spuren auf dem Waldboden. Da waren Moos und braune Nadeln, Brombeerranken. Die Stämme der Fichten und Kiefern sahen alle gleich aus.
„Da lang“, deutete Sybille.
„Nein, da lang.“ Annelie war sich nicht sicher. Sie glaubte nur, sich an diesen moosbewachsenen Baumstumpf erinnern zu können.
„Also gut“, stimmte Sybille zu.
Sie liefen Hand in Hand, bis sie zu einer Lichtung kamen. Die Mauerreste eines verfallenen Steinhauses reckten sich in den
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