Berg der Legenden
Minuten, bis er sich an die ungewohnte Erfahrung gewöhnt hatte, eher als Schauspieler denn als Redner behandelt zu werden. Spontaner Applaus hier und da und sogar gelegentliches Gelächter ermutigten ihn zusätzlich. Nach einem etwas holperigen Start schlug er sich fast eine Stunde lang recht wacker. Erst als er das Publikum aufforderte, Fragen zu stellen und die Lichter im Saal angingen, sah er, vor wie vielen Menschen er gesprochen hatte.
Das Parkett war nahezu vollständig besetzt, doch der erste Rang war im Dunklen nicht zu erkennen. Erleichtert stellte George fest, dass viele Besucher ihm eine Frage stellen wollten, und es wurde rasch deutlich, dass sich einige erfahrene Alpinisten und aufrichtig Interessierte im Publikum befanden, deren Beiträge sowohl durchdacht als auch treffend waren. Als jedoch eine schlanke Blondine in der dritten Reihe fragte: »Mr Mallory, können Sie uns sagen, wie viel es kostet, so eine Expedition auszurüsten?«, war George einigermaßen mit seinem Latein am Ende – nicht, dass die Fragestellerin die Herkunft dieser Redensart kennen würde.
Es dauerte eine Weile, ehe George antwortete, und das nicht nur, weil ihm keine passende Erwiderung einfiel. »Ich habe keine Ahnung, Madam«, brachte er schließlich heraus. »Um die finanziellen Details hat sich stets die Royal Geographical Society gekümmert. Ich weiß indes, dass die Society in Kürze einen Aufruf starten wird, um Spenden für eine zweite Expedition zu sammeln, die nächstes Frühjahr in den Himalaja aufbrechen wird, mit dem einzigen Ziel, einen …« er hielt gerade noch rechtzeitig inne, ehe ihm ›einen Engländer‹ herausgerutscht wäre, »… ein Mitglied des Teams auf dem Gipfel zu sehen.«
»Dürfen diejenigen von uns, die überlegen, sich an den Spenden zu beteiligen, davon ausgehen, dass Sie zu dieser Mannschaft gehören werden, womöglich sogar als ihr Leiter?«
George zögerte keine Sekunde. »Nein, Madam. Ich habe meiner Frau und der Society bereits versichert, dass sie sich für das nächste Mal einen anderen suchen müssen.« Überrascht stellte er fest, dass hier und da enttäuschtes Aufstöhnen im Publikum zu hören war, sogar ein paar gedämpfte »Schande!«-Rufe.
Nach einigen weiteren Fragen hatte George sich wieder gefasst und war sogar ein wenig enttäuscht, als Lee von der Seitenbühne flüsterte: »Kommen Sie zum Ende, George.«
George verbeugte sich ohne Umschweife und verließ eilig die Bühne. Das Publikum begann zu applaudieren.
»Nicht so schnell!«, sagte Keedick und schob ihn zurück, wo ihn Gelächter und noch stärkerer Beifall empfing. Insgesamt musste er sogar dreimal zurück auf die Bühne, ehe der Vorhang sich endlich senkte.
»Das war grandios«, sagte Lee, als sie in den Fond der Limousine kletterten. »Sie waren phantastisch.«
»Glauben Sie wirklich?«
»Es hätte gar nicht besser laufen können«, sagte Lee. »Jetzt müssen wir nur noch beten, dass die Kritiker Sie ebenso lieben wie das Publikum. Übrigens, haben Sie schon Estelle Harrington kennengelernt?«
»Estelle Harrington?«, wiederholte George.
»Die Dame, die Sie gefragt hat, ob Sie die nächste Expedition leiten werden.«
»Nein, ich habe sie nie zuvor gesehen«, sagte George. »Warum fragen Sie?«
»Man nennt sie auch die Pappkarton-Witwe«, erklärte Lee. »Ihr verstorbener Gatte, Jake Harrington, der Erfinder des Pappkartons, hat ihr mehr Geld hinterlassen, als sie zählen kann.« Lee inhalierte tief und stieß paffend eine Rauchwolke aus. »Ich habe im Laufe der Jahre tonnenweise Zeug über sie in den Klatschspalten gelesen, aber ich habe noch nie gehört, dass sie sich fürs Bergsteigen interessiert. Wenn sie bereit ist, die Tournee finanziell zu unterstützen, müssten wir uns keine Sorgen um die New York Times machen.«
»Ist die Zeitung denn so wichtig?«, fragte George.
»Wichtiger als alle anderen Blätter zusammen.«
»Und wann wird sie ihren Urteilsspruch fällen?«
»In ein paar Stunden«, erwiderte Lee und stieß eine weitere Rauchwolke aus.
48
»Die Worker’s Educational Association«, sagte Geoffrey Young, als sie zusammen durch den Garten schlenderten, »ist ein Arbeiterbildungsverein.«
»Davon habe ich noch nie gehört«, sagte Ruth.
»Er wurde in den Anfangszeiten der Labour-Bewegung gegründet, und sein Ziel ist es, jene Menschen zu unterstützen, denen in ihrer Jugend keine Gelegenheit zu einer angemessenen Ausbildung gegeben wurde, die jedoch später noch davon profitieren
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