Berg der Legenden
stand ein lächelnder Lee Keedick im Korridor. Er trug sein übliches offenes Hemd, doch dieses Mal war es grün, während der Anzug hellblau war, ein Farbton, der eher zu einem Burschen aus Cambridge gepasst hätte. Die Kette um seinen Hals glänzte heute golden statt silbern, und die Krokodillederschuhe waren einem Paar aus weißem Lackleder gewichen. George lächelte. Neben Lee Keedick sähe selbst George Finch noch elegant aus.
»Wie fühlen Sie sich, altes Haus?«, fragte Keedick, als er das Zimmer betrat.
»Beklommen«, gab George zu.
»Das ist gar nicht nötig«, sagte Lee. »Man wird Sie lieben.«
Eine interessante Beobachtung, fand George, wenn man bedachte, dass Keedick ihn erst seit wenigen Stunden kannte und ihn nie zuvor in der Öffentlichkeit hatte sprechen hören. Aber dann dämmerte es ihm, dass Lee Keedick einen ganzen Vorrat an Sprüchen parat hatte, einerlei, wer sein Kunde war.
Draußen vor dem Hotel wartete Harry neben dem Wagen. Er öffnete die hintere Tür, und George sprang hinein, wesentlich nervöser als er sich je vor einem anspruchsvollen Aufstieg gefühlt hatte. Auf der Fahrt zum Theater schwieg er und war dankbar, dass Keedick ebenfalls nichts sagte, obgleich er den Wagen mit seinem Zigarrenrauch füllte.
Als sie vor dem Broadhurst Theater anhielten, sah George das Plakat, das seinen Vortrag ankündigte, und musste lachen.
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George Mallory
Der Mann, der den Everest im Alleingang eroberte
Nächste Woche: Jack Benny
Das Foto eines jungen Mannes mit einer Violine entlockte ihm ein Lächeln. Es gefiel ihm, dass nach ihm ein Musiker hier auftreten würde.
George stieg aus dem Auto auf den Gehweg. Seine Knie zitterten, und sein Herz raste, als sei er einen Schritt vom Gipfel entfernt. Keedick führte seinen Schützling über eine Nebengasse zum Bühneneingang, wo ein Assistent sie erwartete und eine steinerne Treppe hinauf zu einer Tür mit einem silbernen Stern darauf führte. Ehe Keedick ging, versicherte er George, vor seinem Auftritt noch einmal nach ihm zu sehen. Dann saß George allein in der kalten, leicht staubigen Garderobe, die lediglich von ein paar nackten Glühbirnen um einen riesigen Spiegel erleuchtet wurde. Ein letztes Mal ging er seine Rede durch. Zum ersten Mal in seinem Leben hätte er am liebsten kurz vor dem Erreichen des Gipfels kehrtgemacht.
Jemand klopfte an die Tür. »Fünfzehn Minuten, Mr Mallory«, sagte eine Stimme.
George holte tief Luft, und kurz darauf kam Keedick herein. »Packen wir’s an, Kumpel«, sagte er. Er führte George die Steintreppe wieder hinab und einen langen Gang mit Ziegelwänden hinunter bis zur Seitenbühne, wo er ihn mit den Worten »Viel Glück, altes Haus! Ich bin im Foyer und jubel Ihnen zu«, stehen ließ.
George schritt auf und ab und wurde mit jeder Minute nervöser. Obwohl er das laute Geschnatter auf der anderen Seite des Vorhangs hörte, hatte er keine Ahnung, wie viele Menschen im Publikum saßen. Hatte Keedick übertrieben, als er sagte, es gäbe nur noch wenige freie Plätze?
Um fünf Minuten vor acht tauchte ein Mann in weißem Smoking neben George auf und sagte: »Hi, ich bin Vince, der Conférencier. Ich stelle Sie vor. Gibt es bei der Aussprache des Namens Mallory irgendwas zu beachten?«
Noch nie zuvor hatte jemand George diese Frage gestellt. »Nein«, erwiderte er.
George sah sich nach jemandem um, irgendjemandem, mit dem er reden konnte, während er nervös darauf wartete, dass der Vorhang sich hob. Er wäre sogar froh gewesen, Keedick zu sehen. Zum ersten Mal begriff er, wie Raleigh sich gefühlt haben musste, kurz bevor ihm der Kopf abgeschlagen wurde. Und dann, ohne jede Vorwarnung, hob sich plötzlich der Vorhang, der Conférencier trat hinaus auf die Bühne, tippte gegen das Mikrophon und verkündete: »Ladys und Gentlemen, es ist mir ein Vergnügen, Ihnen heute Abend George Mallory vorstellen zu dürfen, den Mann, der den Everest eroberte.«
Zumindest hatte er das »im Alleingang« weggelassen, dachte George, als er hinaus auf die Bühne ging und das Gefühl hatte, nicht genügend Sauerstoff zu bekommen. Doch als er von einem herzlichen Applaus begrüßt wurde, fing er sich rasch wieder.
Stockend begann George mit seinem Vortrag, teils, weil er das Publikum nicht sehen konnte, das irgendwo dort unten sitzen musste. Aber da mehrere Scheinwerfer direkt auf ihn gerichtet waren, war es unmöglich, über die erste Reihe hinaus etwas zu erkennen. Es dauerte jedoch nur wenige
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