Berg der Legenden
Rednerzimmer. Er blieb nicht stehen, um unterwegs mit irgendjemandem zu plaudern, aus Furcht, man könnte ihm eine Frage stellen, die er nicht beantworten wollte, ehe er seinen Vortrag gehalten hatte. Zudem benötigte er die vierzig Minuten, um seine Gedanken zu sammeln, denn er wusste, dass ihm die wichtigste Rede seines Lebens bevorstand.
Als er das Rednerzimmer betrat, wartete zu seiner Überraschung Ruth auf ihn.
»Was ist passiert?«, fragte sie, als sie seine verärgerte Miene sah.
George schritt im Raum auf und ab, während er Ruth in allen Einzelheiten erzählte, was bei der Komiteesitzung geschehen war. Schließlich blieb er vor ihr stehen. »Ich habe doch das Richtige getan, oder?«
Ruth hatte die Frage vorhergesehen und wusste, dass sie nur zu sagen brauchte: Ja, Liebster, natürlich hast du recht daran getan zurückzutreten. Hinks hat sich erbärmlich verhalten, und solange Finch nicht wieder eingesetzt wird, würdest du ein viel zu großes Risiko eingehen.
George stand da und wartete auf ihre Antwort.
»Hoffentlich wirst du deine Entscheidung nicht dein Leben lang bereuen«, war alles, was sie sagte. Sie erhob sich rasch von ihrem Sessel, ehe George sie weiter drängen konnte. »Ich lasse dich jetzt allein, Liebster, ich habe nur kurz hereingeschaut, um dir viel Glück zu wünschen. Ich weiß, dass du die wenigen Minuten brauchst, um dich auf diesen wichtigen Moment vorzubereiten.« Sie küsste ihn zärtlich auf die Wange und verschwand ohne ein weiteres Wort.
George setzte sich an den kleinen Schreibtisch und versuchte, seine Notizen noch einmal durchzugehen, aber seine Gedanken kehrten immer wieder zur Komiteesitzung zurück und zu Ruths mehrdeutiger Antwort auf seine Frage.
Jemand klopfte zaghaft an der Tür. George fragte sich, wer das sein könnte, denn eine der goldenen Regeln der Society besagte, dass ein Redner in den letzten Minuten der Vorbereitung nicht gestört werden durfte. Als er Hinks hereinkommen sah, hätte er dem verdammten Kerl am liebsten eins auf die Nase gegeben, doch dann sah er, wer ihn begleitete. George sprang auf und verbeugte sich.
»Eure Königliche Hoheit«, sagte Hinks, »ich habe die Ehre, Ihnen Mr George Mallory vorstellen zu dürfen, der, wie Sie wissen, den heutigen Vortrag halten wird.«
»Ja, ich weiß«, sagte der Prince of Wales. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich einfach so hereinplatze, Mallory, aber ich habe eine Nachricht von Seiner Majestät dem König für Sie, und er hat mich mit der Aufgabe betraut, sie Ihnen persönlich zu überbringen.«
»Es ist außerordentlich freundlich von Ihnen, sich die Mühe zu machen, Sir.«
»Ganz und gar nicht, mein Lieber. Seine Majestät lässt Ihnen ausrichten, wie erfreut er ist, dass Sie sich als Leiter der nächsten Expedition auf den Everest zur Verfügung gestellt haben und dass er sich darauf freut, Sie nach Ihrer Rückkehr kennenlernen zu dürfen.« Hinks lächelte dünn. »Wie ich hinzufügen darf, Mallory, entspricht dies auch meiner Ansicht. Und, wenn ich das noch sagen darf, ich freue mich über alle Maßen auf Ihren Vortrag.«
»Vielen Dank, Sir«, sagte George.
»Jetzt sollte ich Sie besser in Ruhe lassen«, sagte der Prinz, »sonst kommt die Veranstaltung nie in Gang.«
George verbeugte sich noch einmal, als der Prince of Wales mit Hinks zusammen den Raum verließ.
»Hinks, Sie Bastard«, murmelte er, als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte. »Aber bilden Sie sich bloß nicht ein, Ihre kleine List könnte mich dazu bewegen, meine Meinung zu ändern.«
52
»Eure Königliche Hoheit, Mylord, Ladys und Gentlemen, es ist mein Privileg als Vorsitzender der Royal Geographical Society und des Mount-Everest-Komitees, Ihnen den Redner des heutigen Abends vorstellen zu dürfen, Mr George Mallory«, verkündete Sir Francis Younghusband. »Mr Mallory war der bergsteigerische Leiter der letzten Everest-Expedition, bei der er eine Höhe von 8397 Metern erreichte – und damit lediglich 442 Meter vom Gipfel entfernt war. Heute Abend wird Mr Mallory uns von seinen Erfahrungen bei diesem historischen Abenteuer berichten, in einem Vortrag mit dem Titel ›Über den Rand der Landkarte hinaus‹. Ladys und Gentlemen, Mr George Mallory.«
Mehrere Minuten lang war es George unmöglich, etwas zu sagen, denn das Publikum hatte sich von seinen Plätzen erhoben und applaudierte ihm, bis er dem Jubel schließlich Einhalt gebot. Er schaute nach unten in die erste Reihe und lächelten dem Mann zu, der
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