Berge versetzen - das Credo eines Grenzgängers
praktische Vorstellung der Realsituation dazu. Ich wollte einfache Strukturen und Schnelligkeit. Das war nur möglich mit mehr Eigenverantwortung und weniger Material. Nicht eine Truppe, die von einem Organisator dirigiert wurde, kam meinem Ideal nahe, sondern ein Team, das nach demokratischem Muster funktionierte. Im besten Fall brauchte ich nur einen Partner. Zudem wollte ich wenige Schritte vorausorganisieren, am Berg viele spontane Entscheidungen treffen.
So war mein Stil auch beim alpinen Bergsteigen gewesen. So entsprach es meinem Wesen. Mein Ziel war es, einen praktischen Versuch zu starten. Diese Realutopie in die Tat umzusetzen wurde beherrschend in meinem Leben. Sicher, ich war auch vorher ein Neuerer gewesen. Ständig hatte ich nach neuen Wegen Ausschau gehalten, war bemüht, die Grenzen â die des Bergsteigens und meine eigenen â weiter und weiter hinauszuschieben. Jetzt ging es um einen neuen Stil. Das war mehr.
Ich habe für diese meine erste Zwei-Mann-Expedition auf einen Achttausender keinen Computer gebraucht, um Logistik und Strategie zu erarbeiten. Ich habe die Kostenrechnung auf einen Briefumschlag geschrieben. Auch die einzelnen Schritte, um auf den Gipfel zu kommen. Darunter Risiken und Erfolgschancen. Die Rechnung ging auf, wenn wir Bergsteiger »funktionierten«.
Dabei gehöre ich nicht zu den Wundermenschen, die wie Yogis im Himalaja auf Kommando ihren Herzschlag herabsetzen können oder ihre Körpertemperatur. Auch habe ich meine Muskeln nicht auf minimalen Sauerstoffverbrauch trainiert. Zwei Achttausender hatte ich vorher bestiegen â beide ohne Sauerstoffgerät â und meine Erfahrungen dabei gesammelt. Das war alles. Sicher ist durch Training, Selbstkontrolle, Vorwegdenken das vegetative Nervensystem beeinflussbar. Dies alles aber tat ich nicht bewusst. Vielleicht ahnte ich, dass Gedanken, die durch Gefühle verstärkt werden, mehr Energie haben. Und noch etwas: Ich fieberte diesem Grenzgang mehr entgegen als allen anderen vorher.
Ich wusste, dass ich nicht krank werden durfte, und mein Vertrauen in Peter Habeler war stark. In jeder Hinsicht. Ich bin nur einmal (am Kangchendzönga, 1982) bei einer groÃen Reise krank geworden. Als ob die Stärkung meines Immunsystems eine begleitende MaÃnahme der Hochstimmung beim Aufbruch wäre. Das Unterwegssein im Grenzbereich hat mich immer gesünder gemacht, als ich daheim war.
Warum konnte mein neuer Expeditionsstil schneller, erfolgversprechender und gleichzeitig weniger gefährlich werden? Es waren weniger Menschen im Spiel. Wir wenigen konnten bei Schlechtwettereinbrüchen schnell reagieren, vom Berg absteigen. Auch schneller wieder aufsteigen, als dies einer groÃen Mannschaft möglich gewesen wäre.
Die Strategie meiner Kleinstexpedition sah ganz anders aus als die eines herkömmlichen GroÃunternehmens. Ich wollte Gutwetterperioden ohne Vorarbeit nützen, um möglichst hoch auf den Berg hinaufzukommen, und fluchtartig wieder ins Basislager absteigen. Nicht die Vorarbeit und nicht das Ausharren am Berg, wie bei der GroÃexpedition, waren wichtig, sondern blitzschnelles Agieren.
Diese Vorgehensweise entspricht einem Abbau von Hilfskräften und der Dezentralisierung. Zwei sind ein demokratisches Team. Einheimische werden als Träger nur bis ins Basislager eingesetzt. Sie sind also nicht mehr die »Wasserträger der Sieger«, wie jahrzehntelang die Sherpas, die Dutzende Male Lasten durch die gefährlichsten Zonen des Aufstiegs schleppten, nur damit ein paar Sahibs (WeiÃe) »auf ihrem Rücken« zum Gipfel kommen konnten.
Das Zerlegen einer Expedition in kleinstmögliche Einheiten (Talträger bis ins Basislager, Expeditionsküche nur dort, ein oder zwei Seilschaften am Berg), wobei jede Einheit ihre dezidierte Aufgabe übernimmt, garantiert so gröÃtmögliche Flexibilität und Schlagkraft. Jede dieser Gruppen steuert sich bei weitestgehender Eigenverantwortung selbst, die Materialflüsse werden auf ein Minimum reduziert. Zudem werden Entscheidungsprozesse beschleunigt und Umweltschäden minimiert.
In unserer westlichen Industriegesellschaft, die auf Leistung, Geld, materiellen Gewinn ausgerichtet ist, müssen diese meine Aussagen zwangsläufig Widerspruch hervorrufen: Einerseits propagiere ich Verzichtsdenken, andererseits Er-folgsmaximierung.
Nun hat Verzicht nicht unbedingt mit Verzicht auf Leistung zu tun. Ich kann
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