Berger, Fabian
Ich schäme mich heute zu sagen, dass wir unseren Sohn schon beinahe aufgegeben hatten, aber so war es nun mal. Wir rechneten jeden Tag damit, dass er von uns gehen würde. Doch dann passierte das Wunder. Die Therapie schlug wirklich an. Nur wenige Wochen später war der Tumor verschwunden und Jens geheilt. Er hatte eine zweite Chance bekommen. Er war doch noch so jung ...« Der Alte verstummte. Abrupt brach der Schmerz aus ihm heraus und er begann hemmungslos zu weinen.
Lorenz ahnte, dass Korte nicht mehr in der Lage sein würde, das Gespräch fortzuführen. Er erhob sich aus dem Sessel, legte für einen Moment seine Hand auf die Schulter des gebrochenen Mannes und verließ das Haus, ohne sich zu verabschieden. Im Flur legte er seine Visitenkarte auf das kleine Telefonschränkchen. Nur für alle Fälle.
-17-
D utzende Kisten mit frischem Gemüse säumten den Bürgersteig vor dem Schaufenster des einfachen Ladens. Das Gewicht der Tasche drückte auf seine Schulter. Er blickte auf den Zettel in seiner rechten Hand, überprüfte noch mal die Adresse und sah hinauf zu den Fenstern der dritten Etage. In der Wohnung brannte Licht. Zielsicher trat er an die Eingangstür und überflog die Namensschilder der Bewohner. An einer der Klingeln verharrte sein Finger. Für einen Augenblick schloss er die Augen. Dann drückte er mehrmals auf den weißen Knopf und steckte seine Hand zurück in die Manteltasche, in der er das zylinderförmige Metall umschloss. Die Tür öffnete sich mit einem elektrischen Summen. Langsam schritt er durch den Flur. Das dumpfe Geräusch seiner Absätze hallte wie ein Taktmesser durch das finstere Treppenhaus. Die wenigen von draußen einfallenden Sonnenstrahlen gaben gerade noch die Umrisse der hölzernen Stufen frei und halfen ihm, sich einigermaßen zurechtzufinden. Erster Stock. Tausende Bilder jagten ihm durch den Kopf. In Gedanken versuchte er alle möglichen Handlungsabläufe vorauszuahnen, die ihn in wenigen Sekunden erwarten konnten. Seine Arbeit verlangte gerade zu Anfang höchste Aufmerksamkeit. Zweiter Stock. Nur noch wenige Stufen trennten ihn von seinem Ziel. Dann erreichte er die dritte Etage. Die Wohnungstür war bereits in Sicht. Seine Konzentration verbarg er hinter einer entspannt wirkenden Maske. Er klingelte. Leise Schritte aus dem Inneren der Wohnung kamen näher. Das Türschloss wurde entriegelt und verbrauchte Luft strömte ihm entgegen.
»Ja?« Das Gesicht eines Mannes lugte müde hervor.
Mit einem kräftigen Schlag stieß er gegen die Tür. Die Wucht ließ den Bewohner rückwärts stolpern und riss ihn schließlich von den Beinen. Völlig verwirrt blieb der Mann auf dem Fußboden liegen und sah in die kalten Augen seines Angreifers.
»Was wollen Sie?«, winselte er mit brüchiger Stimme. Er war von dem plötzlichen Aufprall dermaßen irritiert, dass er keine Kraft hatte, aufzustehen. Ein heftiger Fausthieb traf sein Gesicht. Das Blut schoss aus seiner Nase, und Tränen strömten ihm über die Wangen. Seinem Angreifer wehrlos ausgeliefert, begann er flehend zu jammern.
»Halt’s Maul!« Mit einem Tritt stieß er die Tür zurück ins Schloss. »Rumdrehen und Hände über den Kopf!«
Rasch gehorchte der Bewohner.
Der Eindringling beugte sich zu ihm hinunter und ergriff die verschränkten Hände, die er mit aller Wucht gegen dessen Hinterkopf presste. Unbarmherzig drückte er ihm das Knie in den Rücken und zog die gefüllte Spritze aus seiner Manteltasche. Mit den Zähnen zog er die Kappe von der Nadel und spuckte sie aus. Dann rammte er die Spitze in seinen Hals. Nur wenige Sekunden vergingen bis die Spannung aus dem Körper des Opfers verschwunden war und die Muskeln von Armen und Beinen erschlafften. Langsam löste er seinen Griff und zog prüfend die Augenlider des Mannes hoch. Er hatte nicht viel Zeit, bis die Atmung aussetzen würde. Hastig griff er nach seiner Tasche und klappte sie neben sich auf. Das silberglänzende Metall des Bestecks reflektierte im spärlichen Licht des Flures. Vorsichtig brachte er sein Opfer in die erforderliche Position und begann mit seiner Arbeit.
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E inige Zeit war vergangen seit Lorenz zuletzt die imposante Glasgalerie des Kölner Maritim betreten hatte. Doch weder der Fußboden aus Marmor noch das Glasdach konnten ihn heute begeistern. Im hellen Schein der morgendlichen Sonne erwachten die Ladenlokale zum Leben, die links und rechts die große Halle säumten, und präsentierten sich entlang der Baumallee in charmanter Eleganz.
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