Berger, Fabian
irgendwo in der Vergangenheit der Opfer liegen musste. Wenn er nur wüsste, wo er anfangen sollte zu graben.
Plötzlich setzte sich ein schwarzer Lieferwagen in einer Einfahrt in Bewegung und schnitt ihm den Weg ab. Vollmer trat auf die Bremse. Wild gestikulierend fluchte er die beiden roten Rücklichter an, die sich mit rasanter Geschwindigkeit von ihm entfernten.
»Du Vollidiot! Hast du keine Augen im Kopf?«, brüllte er durch die Windschutzscheibe und fuhr wieder an. Kurz darauf war der Transporter aus seinem Blickfeld verschwunden.
Etwa zehn Minuten später erreichte Vollmer die Redaktion. Nur der silberne Mercedes stand einsam auf seinem angestammten Parkplatz. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein Chef noch im Haus war. Frech stellte er seine Schrottkarre neben das schicke Auto. Er warf einen Blick zur obersten Etage. Doch es brannte kein Licht in Boschs Büro. Wahrscheinlich hat er wieder mal einen über den Durst getrunken und seinen Wagen stehen lassen, dachte Vollmer, während er durch den Eingang schritt und mit wenigen Sprüngen die Treppe hinter sich ließ. Er trat durch die Glastür auf den Flur der Redaktion. Schließlich erreichte er seinen Schreibtisch, schaltete den Computer an und hing die Jacke über die Rückenlehne seines Drehstuhls. Er tippte sein Passwort ein und öffnete das Programm, in dem er seinen Artikel schreiben würde. Abrupt unterbrach er seine Arbeit. Ein fremdes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Er drehte den Kopf, um festzustellen, aus welcher Richtung es kam. Dann war es wieder still. Mit der Hand rieb er sich durch sein Gesicht und schob die vermeintliche Halluzination beiseite. Kaum hatte er sich wieder seiner Arbeit gewidmet, kehrte das Geräusch zurück. Diesmal lauter als zuvor. Vollmer erhob sich von seinem Stuhl und trottete durch die Redaktion. Schließlich blieb er vor Boschs geschlossener Bürotür stehen. Ein gequältes Stöhnen drang durch das milchige Glas aus dem Inneren. Lautlos öffnete er die Tür einen Spaltbreit und spähte hinein. Als er die sabbernde Fratze seines Chefs sah, erschrak er und blieb wie angewurzelt stehen. Bosch war alkoholisiert von seinem Sessel gerutscht und mit dem Kinn auf die Glasplatte aufgeschlagen. Angestrengt versuchte er, seinen schweren Körper wieder in den Sitz zu verfrachten. Seine Haare standen in alle Richtungen. Er sah abscheulich aus und schien nicht mehr ganz bei sich zu sein.
»Was wollen Sie!«, krächzte er, als er seinen Mitarbeiter erblickte, und wischte sich den Mund mit dem Hemdsärmel ab.
»Entschuldigung. Ich wusste ja nicht, dass Sie hier sind. Ich hatte etwas gehört und da wollte ich nur mal nachsehen.« Vollmer wollte schon wieder die Tür schließen, als Bosch ihn zurückpfiff.
»Hier geblieben!« Er deutete auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch.
Kommentarlos folgte Vollmer der Aufforderung seines Chefs.
Bosch ließ sich erschöpft in seinen Sessel fallen. Er strich sich durch die Haare und stöhnte leise auf. »Manchmal weiß ich nicht, was der ganze Scheiß überhaupt noch soll.« Er stützte seine Ellbogen auf die Platte und sah ihn mit müden Augen an. »Kennen Sie das, wenn alles über Ihnen zusammenbricht? Wenn Ihnen alles, was Sie sich in den Jahren aufgebaut haben, einfach so entgleitet? Kennen Sie das?«
Vollmer fand keine Worte. Noch nie hatte er Bosch in solch einem Zustand gesehen. Er war bisher immer davon überzeugt gewesen, dass diesen Mann nichts auf der Welt in die Knie zwingen konnte. Doch nun sah er einen Greis vor sich, der vom Alkohol gezeichnet jeden Lebensmut verloren hatte und verzweifelt versuchte, einen Sinn in dem zu finden, was ihm noch geblieben war.
»Was soll ich sagen?« Vollmer fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut.
»Ja oder nein!«, lallte der Chef ungeduldig.
»Nein, ich glaube nicht.«
Bosch erhob sich, schlenderte zum Vitrinenschrank und nahm zwei Gläser heraus. Er füllte sie zur Hälfte mit Cognac. »Sechs Monate bleiben mir noch, sagen die Ärzte. Vielleicht auch weniger.«
Vollmer war fassungslos. Mit offenem Mund starrte er ihn an. »Und Ihre Frau?«
»Die weiß nichts davon. Niemand weiß davon. Und dabei soll es auch bleiben. Jedenfalls vorerst.«
Vollmer senkte den Blick. »Das tut mir leid.«
»Ach, dummes Geschwätz. Nichts braucht Ihnen leidzutun. Sie sind noch relativ jung und hängen nicht an der Flasche, so wie ich. Ich gebe Ihnen einen Rat: Suchen Sie sich eine Frau, setzen Sie Kinder in die Welt und nehmen Sie Ihren
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