Berger, Fabian
Sein Grinsen schien auf seinem Gesicht eingefroren zu sein. Erwartungsvoll schaute er sie an.
»M-Mein Urlaub?«, stotterte sie und suchte verzweifelt nach einer Antwort.
Abrupt trat er einen Schritt zurück und musterte sie eingehend. »Entschuldige, bitte! Wo bin ich nur mit meinen Gedanken«, tadelte er sich. »Du bist wahrscheinlich hundemüde. Moment ...« Er hob den Zeigefinger und verschwand in seiner Wohnung. Kurz darauf kehrte er zurück. »Du willst dich wahrscheinlich erst einmal von der Reise erholen.« Er zog ihre Hand an sich und legte ihr einen Schlüssel hinein. »Es ist alles in bester Ordnung. Die Post liegt auf dem Flurschränkchen. Wenn du irgendetwas brauchst, dann weißt du ja, wo du mich findest.« Er zwinkerte ihr liebevoll zu und ließ sie allein.
Clara fühlte sich wie in einem skurrilen Film gefangen. Der Schlüssel lag wie ein Fremdkörper in ihrer Hand. Ihr Blick schweifte zu der Tür mit dem Kranz am anderen Ende des kleinen Flurs. Leise schritt sie über die alten Dielen und empfand erneut dieses vertraute Gefühl, welches sie erst dazu gebracht hatte, das Gebäude zu betreten. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und hoffte inständig, dass der Mann sie nur mit dieser Charlotte verwechselt hatte. Womöglich sah sie der Frau sehr ähnlich. Natürlich, genauso musste es sein, redete sie sich ein. Das Metall glitt langsam ins Schloss. Sie zögerte einen Moment. Dann drehte sie den Schlüssel sanft um. Nach dem zweiten Widerstand stockte die Mechanik und die Tür schwang einen Spaltbreit nach innen auf. Ein Hauch von abgestandener Luft schlug ihr entgegen. Sie hielt inne und lauschte. Dann stieß sie die Tür weit auf und sah in einen schmalen Flur, dessen Wände in einem edlen Anthrazit gestrichen und im unteren Drittel mit weiß lackierten Kastenverblendungen an beiden Seiten verziert waren. Ein hellbrauner Sisalteppich bedeckte den Fußboden. Schließlich trat sie ein. Sie öffnete die weiße Zwischentür und blieb schließlich in der Mitte des Raumes stehen. Das Zimmer war geschmackvoll mit einem Schrank, einigen Regalen und beigefarbenen Sitzmöbeln eingerichtet. Der dunkle Parkettboden war an einigen Stellen bereits abgenutzt. Auf der gegenüberliegenden Seite führte eine Flügeltür in ein angrenzendes Zimmer. Clara öffnete sie und betrat die Küche. Der Raum war ausgesprochen spärlich möbliert. Neben einem alten Herd und einem silberglänzenden Kühlschrank aus den 60er Jahren sah sie lediglich zwei kleine Hängeschränke und einen hohen Tisch mit zwei Barhockern. Ein schmales Fenster führte den Blick in den Innenhof. Sie kehrte in den Wohnraum zurück. Es gab weder Bücher in den Regalen noch Bilder an den Wänden. In einer Ecke standen ein paar Kartons. Keine Fotos oder persönliche Dinge. Nichts. Plötzlich spürte sie eine leichte Berührung an ihrem Bein. Erschrocken trat sie zur Seite und sah an sich hinunter. Ein weißes Fellknäuel blickte zu ihr hoch und gab ein lautes Miauen von sich.
»Wer bist du denn?« Sie streckte ihre Hand aus und strich der Katze über das Fell. Als Dank erhielt sie ein lautes, entspanntes Schnurren. Nach einer Weile richtete sich Clara wieder auf, ging zurück in den Flur und gelangte von dort in einen weiteren Raum. Verwundert stellte sie fest, dass das gesamte Interieur dem ihrer eigenen Wohnung glich. Genauso karg und puristisch, genauso hell und unaufdringlich. Eine Sitzgelegenheit in der Nähe des Fensters, das Bett in der Mitte des Raumes. Selbst die Art der Platzierung der Möbelstücke war nahezu identisch.
»Was zum Teufel ist hier los?«, murmelte sie vor sich hin und suchte verzweifelt nach einer einleuchtenden Erklärung. Alles war irgendwie gleich und doch nicht dasselbe. Verwirrt setzte sie sich auf den Stuhl vor dem Fenster und blickte hinaus auf die Straße. Sie überlegte, wem die Wohnung, die ihrer so ähnlich war, gehören könnte und was sie hier eigentlich tat. Der junge Mann, der ihr den Schlüssel gegeben hatte, hielt sie offensichtlich für seine Nachbarin.
»Wach auf, Clara! Wach endlich auf!« Sie musste herausfinden, warum sie hier war und wer diese Charlotte Bernstein war. Sie stand auf und kehrte zurück in den Flur. Auf einem Tischchen hatte der Nachbar, wie versprochen, die Post deponiert. Ihr Blick wanderte über den Fußboden. Ein kleiner Zettel lag direkt vor der Tür. Sie bückte sich und hob ihn auf. Es dauerte eine Weile, bis sie die handgeschriebenen Worte in dem spärlichen Licht entziffern
Weitere Kostenlose Bücher