Berger, Frederik - Die Geliebte des Papstes
…«
Sie brach ab, strich Silvia übers Gesicht.
»Es beginnt zu dämmern. Ich gehe und hole Hilfe. Glaub mir, es wird nicht deine letzte Stunde sein.«
Silvia versuchte zu lächeln. Sie wartete auf den nächsten Ausbruch der Schmerzen, auf die nächste Welle der Gewalt, die ihren Unterleib erfaßte und sie zerquetschen, zerreißen, vernichten wollte. Ave Maria , gratia plena … voll der Gnade, die du selbst im Stall entbinden mußtest, benedicta tu in mulieribus , et benedictus fructus ventris tui . Es nützte nichts, alle hatten sich von ihr abgewandt, Gottvater, sein Sohn und die Muttergottes. Vielleicht sie am wenigsten, sie kannte die Schmerzen einer Mutter, aber auch die glühende Hoffnung, die Liebe, die Stärke, sie wußte, was es bedeutete, ein Kind neun Monate zu tragen, von ihm zu träumen, in ihm den Lebenssinn zu sehen. Sancta Maria , Mater Dei , ora pro nobis peccatoribus , nunc et in hora mortis nostrae ! In der Stunde des Todes! Unerlöst, ohne Beichte, ohne Absolution. Ohne Alessandro gesehen zu haben, für den sie noch leben wollte, für ihn und die gemeinsamen Kinder. Ein Zufall hatte sie an Capodimonte vorbeigeführt, nein, kein Zufall, die Bosheit der Menschen, die kleine, zufällige Bosheit …
Warum waren Alessandro und sie nicht in Rom zusammengeblieben? Sie gehörten längst zusammen. In der Stunde des Todes …
»Es wird alles gut!« flüsterte Rosella. »Bleib ruhig, ich hole Hilfe!«
Kaum hatte Rosella den Stall verlassen, setzten die nächsten Wehen ein. Und diesmal waren die Schmerzen noch heftiger. Silvia stöhnte, preßte die Hand vor den Mund, wand sich. Die Kinder wachten auf. Die kleine Costanza weinte. Tiberio kam herangekrochen und wollte sie trösten. Ja, der fünfjährige Tiberio versuchte, seine Mutter zu trösten.
Und nun schrie sie.
Aber es nützte nichts.
Draußen Stimmen.
Plötzlich war der Schmerz wieder weg.
Es war, als sei sie erlöst von allem Übel. Die ersten Sonnenstrahlen schickten ihre blendenden Streifen in das Stroh. Sandro befreite die Vogelbauer von den Tüchern, und schon sangen die Vögel! Ja, sie sangen!
War dies ein Zeichen?
Rosella erschien mit der Hebamme, kurz bevor die nächsten Wehen einsetzten.
Aber helfen konnte sie vorerst nicht. Sie untersuchte sie, half ihr auf den Geburtsstuhl, den sie mitgebracht hatte.
Und dann wurde Silvia fast ohnmächtig vor Schmerzen. Nein, sie hielt es nicht aus. Sie schrie. Sie überschrie den Gesang der Vögel.
Eine Weile sah und fühlte sie nichts mehr. Die Welt war blind. Ihr Körper eine riesige Blase, die davonschwebte. Und sie mittendrin, wie in einem Ei, umgeben von ihren Kindern, mittendrin mit Alessandro, und sie herzten sich, bis die Blindheit auch sie selbst erfaßte …
Als es Abend wurde, hatte sie ihr Kind noch immer nicht auf die Welt gebracht. Die Schmerzen waren bis über das Erträgliche hinaus angewachsen. Zwischendurch verlor sie das Bewußtsein. Und sie fühlte sich von Stunde zu Stunde schwächer.
Sie hatte es gespürt, ja gewußt. Die Stunde des Todes. Ultima necat . Sie mußte sterben, und mit ihr das Kind.
Am nächsten Morgen lebte sie noch, ohne daß das Kind den Weg ans Licht der Welt gefunden hatte. Blutgeschmack im Mund, eine offene Wunde ihr Unterleib, zersägt, zerschnitten, ein Schlachtfeld der Schmerzen … Unmöglich, noch klar zu denken …
Vor ihr Rosellas Gesicht, daneben das Gesicht der Hebamme.
»Ich hole einen Chirurgus«, hörte sie, »wir müssen etwas unternehmen.«
Silvia nickte. »Wir müssen etwas unternehmen«, flüsterte sie mit allerletzter Kraft. »Rettet das Kind. Und wenn es ein Junge wird, dann nennt ihn Alessandro. Es ist sein Sohn, er wird einmal groß und berühmt.«
»Ich hole einen Chirurgus«, wiederholte die Hebamme.
»Vielleicht wird er ein bedeutender Mann, ein Dichter wie Petrarca oder Boccaccio, vielleicht auch ein Condottiere – oder ein Kardinal – ein Herzog … Rettet das Kind, rettet meinen Sohn, schneidet ihn aus mir heraus. O Herr, erhöre mein Rufen, ich schreie zu dir, Herr, aus den Tiefen des Abgrunds, so tief, wie ein Weib nur sinken kann, ja, schneidet das Kind aus mir heraus, beendet meinen Schmerz, laßt mich endlich sterben, aber rettet das Kind!«
64. K APITEL
Alessandro hatte schon einige Tote gesehen, aber das Bild des schwarzen, grotesk aufgedunsenen und grauenvoll stinkenden Leichnams des Heiligen Vaters ließ ihn nicht mehr los. Sancta Maria , Mater Dei , ora pro nobis peccatoribus , nunc et in hora mortis
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