Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bergfriedhof

Bergfriedhof

Titel: Bergfriedhof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
Vom Netzwerk:
Penner vorm Rathaus glotzten ... was für ein Auflauf!
    Und wer befand sich im Zentrum des Kreises?
    Ich stellte mich auf einen Kneipenstuhl, um über die Köpfe der Zuschauer spähen zu können. In diesem Moment begann das Singen. Es kam aus der Mitte der Menschenansammlung, und es hätte mich nicht gewundert, wenn es aus der Tiefe des Marktbrunnens gekommen wäre. Man musste es auch nicht unbedingt als Singen bezeichnen, denn es klang wie das Geschepper von Blechbüchsen nach vier Wochen Regen. Ich unterschied einzelne Wörter: Mai ... Sonne ... heißassa ... Mädel ... Schlagartig wurde mir klar, wer die Verantwortung für dieses zweifelhafte Vergnügen und für das Großaufgebot an Polizeikräften trug: Studentenverbindungen.
    Natürlich, ich hätte es wissen müssen: Morgen war 1. Mai. Ein Datum, das nicht nur Gewerkschaftler, Sportvereine und Pfadfinder hinterm Ofen hervorlockt. Auch die Heidelberger Verbindungen trugen alljährlich auf ihre Weise zur Traditionspflege bei, indem sie sich tags zuvor, am 30. April, auf dem Marktplatz zusammenrotteten und ein Ständchen gaben. Mai-Einsingen nannten sie das, Pflege des deutschen Liedguts. Die Büttenrede eines Gießkannenensembles nannte ich das. Live hatte ich die korporierten Faschingsprinzen noch nie erlebt, aber das Ritual war stadtbekannt.
    Bekannt – und damit komme ich zur Ursache für die massive Polizeipräsenz an diesem Tag – bekannt war es übrigens auch denen, die das Verbindungswesen verachteten: Linken, Autonomen, Punks. Die hatten ihre eigene traditionelle Weise, den schönen Monat Mai willkommen zu heißen. Sie brachten ebenso viele Aktivisten auf die Beine wie die Burschen, eher noch mehr, und sobald das Singen auf dem Marktplatz anhob, zauberten die Linken Farbbeutel, Tomaten (im April!), Eier und alle möglichen anderen Wurfgegenstände hervor, mit denen sie die in voller Montur angetretenen Choristen bombardierten. Eine Stunde lang war Heidelberg im Ausnahmezustand. Die einen unterstützten die Attackierer, die anderen verteidigten die Opfer, zwischen beiden Lagern irrten die Polizisten hin und her, bekamen das Gros der Farbbeutel ab und wussten nicht, wohin mit ihren Schlagstöcken.
    So ungefähr gestalteten sich die Spielregeln.
    Die Burschen waren hinterher natürlich stocksauer und beschwerten sich bei den Stadtoberen, weil sie wieder nicht über zwei Gesangsnummern hinaus gekommen waren. Der Stoßtrupp der Linken hatte sich prächtig amüsiert, denn die geputzten und gewienerten Uniformen der Verbindungsstudenten boten eine ideale Zielscheibe, und erwischt wurde im allgemeinen Tohuwabohu kaum ein Störenfried. Am nächsten Werktag lamentierten die Neckar-Nachrichten über die Intoleranz radikalmarxistischer Gruppen, über die mangelnde Präsenz der Polizei und das allgemein gesunkene Traditionsbewusstsein. Die Linken hatten ihrem heroischen Kampf für eine bessere Welt ein neues Kapitel hinzugefügt, und die Burschen steckten zähnefletschend ihre Kostüme in die Waschmaschine. Alles nur Hahnenkämpfe. Überkommene Männlichkeitsrituale.
    Das also war es, was uns an diesem Abend auf dem Marktplatz erwartete: altdeutsche Liedkunst und fliegende Tomaten. Kein Grund, länger als notwendig hierzubleiben. Auch wenn ich unter den Zuhörern keinen einzigen linken Guerillero entdecken konnte. Ließen die sich von den paar Hundertschaften Polizei einschüchtern? Ich erinnerte mich an martialische Aussagen eines Polizeisprechers, der im Regionalfernsehen augenrollend davor gewarnt hatte, den Aufmarsch der Verbindungen zu stören. Diesmal werde man hart durchgreifen. Sehr hart. Na, das ging mich nichts an.
    In diesem Moment erhaschte ich einen zufälligen Blick auf die Sangesbrüder, der in mir einen Sinneswandel bewirkte. Vielleicht ging mich das Freiluftkonzert doch etwas an. Denn eines der Gesichter, das kurz zwischen den Köpfen der Zuschauer aufgetaucht war, kannte ich: ein verkniffenes Gesicht, etwas weichlich, Stupsnase, gescheiteltes Blondhaar. Auf dem Foto bei Bünting sah er jünger aus, aber es bestand kein Zweifel: Er war es. Arndt Bünting. Der Enkel des Silberrückens. Bei den Burschen also, nicht schlecht.
    Ich stieg von dem Stuhl herunter und schloss mein Rad an einen Laternenpfahl. Diesen Jüngling wollte ich mir mal aus der Nähe ansehen. Allerdings war das leichter gesagt als getan. Die Menge stand dicht gedrängt, und ich musste mir den Weg regelrecht freistemmen. Ich kam mir vor wie ein Wattwanderer, der bis zur Hüfte im

Weitere Kostenlose Bücher