Bergfriedhof
verständnisvollen Getue ... widerlich. Unser Institut bestand aus zwei Lagern von Studenten: Die einen wollten unbedingt ihren persönlichen Leidensweg aufarbeiten, die anderen warfen mit Statistiken um sich. Dazu halbseidene Dozenten, die den Verfall der Gesellschaft beklagten, während sie Prosecco schlürften. Erst dachte ich noch, ich hätte die falschen Kurse gewählt. Nach einem Jahr gab ich es auf.
Konsequenterweise hätte ich längst den Wohnort wechseln müssen. Wenn die halbe Stadt dein Feind ist, befindest du dich im permanenten Kriegszustand. Na und? Bis zum Fall der Mauer lebte so die ganze Welt und das nicht schlecht. (Zumindest wir im Westen nicht; die Ukrainer fragte ja keiner.) Außerdem erhöht diese Daueranspannung die Wachsamkeit eines Privatdetektivs, behaupte ich, und es ist ja nicht so, dass ich unter Vereinsamung litte. Da gibt es Fatty, Marc, die Jungs aus dem Englischen Jäger , ich war sogar mal verheiratet; und noch mehr Freunde? – ich glaube, das ginge ins Geld. Na ja. Genug politisiert. Ende der Abschweifung.
»Na, was habe ich Ihnen gesagt?«, ließ sich die Frau gegenüber vernehmen. »Jetzt sind es 10 Minuten. Und wir sind noch nicht mal in Friedrichsfeld.«
»Hm«, sagte ich.
»Stellen Sie sich mal vor, es würde regnen.«
»Soll es ja. Morgen oder so.«
»Eine Frechheit ist das«, sagte sie und faltete die Zeitung neu. »Eine Frechheit, das mit der Mehrwertsteuer.«
Unwillkürlich warf ich einen Blick auf ihre Lektüre – die Montagsausgabe der Neckar-Nachrichten – und bekam einen Schrecken.
»Entschuldigung ... Dürfte ich mal kurz in den Lokalteil schauen?«
Sie reichte ihn mir. Es war ein Artikel auf Seite drei, der meine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Ich überflog ihn und atmete auf. Da erregte sich ein altgedienter Redakteur (nicht Marc Covet) über ein ungeheures Ereignis inmitten der idyllischen Heidelberger Altstadt. Bei diesem Ereignis handelte es sich um nichts anderes als um meine Flucht durch die Plöck; aber die Ungeheuerlichkeit bestand nach Ansicht des Schreiberlings nur zur Hälfte in dieser Harakiri-Fahrt. Gewiss, er tadelte »das unverantwortliche Handeln des Zweiradfahrers« – wusste er, wie recht er mit den zwei Rädern hatte? –, dessen Verhalten von »einer bemerkenswerten Rücksichtslosigkeit« geprägt gewesen sei. (So schön hatte noch nie jemand über mich geschrieben.) Da der Radler jedoch Fahrerflucht begangen hatte und von ihm nicht einmal ein Phantombild existierte, hatte sich der Journalist der Neckar-Nachrichten an diejenigen gehalten, die sich nicht verkrümeln konnten: meine beiden Verfolger. Sie an den Pranger zu stellen, war viel attraktiver. Da hatte man Namen, und man hatte Fotos. Der Leser konnte am Frühstückstisch mit dem Finger auf die Beamtenvisagen zeigen und all seine Vorurteile bestätigt sehen. Guck ihn dir nur an, Beate, was hat denn so ein Ochse bei der Polizei verloren?
Ich kratzte mich am Kinn. Der Anblick meiner Verfolger löste gemischte Gefühle in mir aus.
»Polizeimeister Andreas S. und Polizeimeisterin Susanne K.«, schrieb der Journalist, »müssen sich fragen lassen, ob ihr Verhalten in irgendeinem Maße durch die Sachlage gerechtfertigt war. Bei dem Verfolgten handelte es sich schließlich nicht um einen Kapitalverbrecher. Zwar können die Heidelberger, und vor allem die leidgeprüften Bewohner der Altstadt, ein Lied von der zunehmenden Aggressivität jugendlicher Radfahrer singen. Im aktuellen Fall aber konnten die beiden Polizisten nicht einmal ausschließen, dass sich der Betreffende weitestgehend verkehrsgerecht verhalten hat. Dass der Fahrer durch seine überhöhte Geschwindigkeit andere Verkehrsteilnehmer gefährdete, scheint unstrittig. Wie er dabei jedoch die protokollierten beleidigenden Gesten in Richtung Streifenwagen vollführt haben soll, bleibt das Geheimnis der beiden Beamten. Und selbst wenn sich dieses lüften sollte, kann man ihr filmreifes Eingreifen nur unverantwortlich nennen. Zeugen berichten von chaotischen, panikartigen Zuständen in der Plöck; beim Versuch, dem Streifenwagen auszuweichen, brach sich eine ältere Dame das Schlüsselbein. Mehrere weitere Personen erlitten leichte Verletzungen. Zu einer Katastrophe hätte es vor dem Hölderlin-Gymnasium kommen können, wo S. den Wagen nach Aussagen von Beteiligten nur wenige Zentimeter vor Dutzenden von verängstigten Schulkindern zum Stehen brachte. Auch unter den Kindern gab es einige Leichtverletzte, ursächlich hervorgerufen
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