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Bergfriedhof

Bergfriedhof

Titel: Bergfriedhof Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Schlick steckt. Dass diese Touristen aus Miami und Philadelphia aber auch so massig sein müssen! Kameras wie Einfamilienhäuser und Kinder wie Ölbohrinseln. Nur gut, dass ich keine englischen Schimpfwörter verstehe. Zwei Gesangsstrophen und etliche Ellbogenstöße später hatte ich mich durch den Menschenbrei gekämpft und genoss freie Sicht auf den tapferen Jungmännerchor.
    »Ich weiß nicht, was soll es bedeu-eu-euten ...«
    Nun musste ich wieder kämpfen, und zwar mit dem Lachen. Schön, wenn sich junge Menschen zum Singen treffen. Schön, wenn sie das unter freiem Himmel tun und ihre Mitbürger daran teilhaben lassen. Bloß: mit diesem Gesichtsausdruck? In dieser Habachtstellung? Brust raus, Scheitel stramm, Hände an der Hosennaht? Sie sangen, aber sie sahen aus, als gelte es, Ostpreußen heimzuholen. Natürlich trugen ihre Uniformen eine Mitschuld an diesem Eindruck: bunte Jäckchen, Kappen, Schaftstiefel, ein schräg über die Brust laufendes Band und an der Seite ein Fechtsäbel. Was hatte das mit Frühling und Nachtigallen zu tun?
    »Goethe«, sagte ein Japaner neben mir strahlend und nickte seiner Frau zu. »Johann Wolfgang Goethe.«
    Wobei ich zugeben muss, dass mir Uniformen generell zuwider sind. Meinen Tanzstundenanzug habe ich verschenkt, um die Bundeswehr konnte ich mich drücken. Warum es für junge Leute attraktiv sein soll, sich in die Einheitsmontur einer Verbindung stecken und Narben ins Gesicht schlagen zu lassen, ist mir ein Rätsel. Gegen ihren Gesang hatte ich nichts, auch wenn er ästhetisch zu wünschen übrig ließ.
    »Waren Sie schon im Heidelberger Zoo?«, fragte ich den Japaner neben mir. »Im Elefantenhaus klingt es genauso.« (Das war feige, Max Koller; der Japaner sprach kein Wort Deutsch. Außer ›Goethe‹.)
    Der junge Bünting stand in der vordersten Reihe des Chors. Wie seine Bundesbrüder neben ihm trug er eine grüne Montur, und wenn ich mich nicht täuschte, warf er bisweilen verstohlene Blicke in die Menschenmenge. Erst verstand ich das nicht, dann fiel mir auf, dass auch die übrigen Sänger längst nicht so bei der Sache waren, wie sie vorgaben. Sie äugten zur Seite, linsten nach oben ... na klar, sie hatten Angst vor einer Farbbeutelattacke. Sie trauten dem Frieden nicht.
    »Im Frühtau zu Berge, wir ziehn, fallera ...«
    »Bravo!«, rief jemand und spendete Beifall. Alles klatschte, am lautesten mein netter Japaner. Die Sänger verzogen keine Miene, Kameras wurden gezückt, Fotohandys hochgehalten. Vor dem nächsten Lied kehrte wieder Stille ein. Die Burschen holten Luft, öffneten den Mund ... und schlossen ihn wieder, denn in diesem Augenblick brach ein ohrenbetäubendes Spektakel los: Trillerpfeifen, Gejohle, schrille Pfiffe, Parolen – ein wüster, kakofoner Kladderadatsch, der alle zusammenzucken ließ. Was war denn das für ein Lied?
    Es war kein Lied. Es war der Angriff der Linken. Sie mussten sich diesmal generalstabsmäßig auf die Schlacht vorbereitet haben. Wie auf Kommando erschienen sie plötzlich in den Fenstern, die auf den Marktplatz gingen, machten einen Heidenlärm, und natürlich waren sie bewaffnet. Auf die bedauernswerten Sänger prasselten die obligatorischen Farbbeutel nieder, Obst und Gemüse hinterher, und die Polizisten rannten wie elektrisiert, aber recht planlos über den Platz, ohne mit ihren Schlagstöcken etwas ausrichten zu können.
    Respekt. So eine ausgeklügelte Aktion hätte ich diesen Chaoten niemals zugetraut. Wie waren die nur in all diese Häuser gekommen? Während ich mich hinter den breiten Rücken eines Amerikaners duckte, sah ich zu Arndt Bünting hinüber. Wie die meisten seiner Kameraden schwankte er zwischen Flucht und Ausharren. Löste sich die Gruppe auf, ging der Abend in die Binsen, blieb man stehen, die Uniform.
    Nach und nach organisierte sich die Polizei. Schwitzende, heisere Einsatzleiter stellten Dreier-Grüppchen zusammen und schickten sie in die Häuser, aus denen die Wurfgeschosse flogen. Das bedeutete über kurz oder lang das Ende der Attacke. Inzwischen hatten sich die meisten Zuschauer jedoch längst verzogen. Fraglich, ob sie noch einmal bereit waren, den Sangeskünsten der jungen Herren zu lauschen.
    Und dann, gerade als das Trommelfeuer von oben schwächer wurde und alles nach Deeskalation aussah, ging es richtig los. Ich schaute wieder zu Arndt hinüber und traute meinen Augen kaum: Nun kloppten die Burschen selbst aufeinander herum! Was war denn in die gefahren? Einige Sänger hielten große

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