Bergisch Samba
»Wo ist er?«
»Heute ist Samstag. Er hat frei.«
Eine eigenartige Verwandlung ging mit mir vor. Ich wurde innerlich ganz ruhig, und es war, als hätte ich keinen Körper mehr. Nur noch einen Kopf und einen Mund. Der Rest war wie betäubt. Abgestorben.
»Gut«, sagte mein Mund ruhig. »Das mit dem Auto geht nicht. Aber der junge Dückrath hat doch eine Waffe gehabt. Ich hatte sie selbst in der Hand.«
»Wo ist die Waffe jetzt?«
»Die beiden haben sie gestern Abend aus meinem Auto gestohlen.«
»Also futsch, was?«
»Verdammter Mist!« Plötzlich packte mich der Zorn, und ich schlug mit der flachen Hand auf die Schreibtischplatte. Als ich das brennende Gefühl auf der Handfläche spürte, hätte ich am liebsten gleich weitergemacht und das gesamte Mobiliar zertrümmert.
»Ich weiß genau, wie Sie sich fühlen«, hörte ich Krüger sagen. »Man hat einen Fall praktisch bis zu Ende verfolgt, und dann zerrinnt einem alles zwischen den Fingern. Was glauben Sie, wie oft uns das so geht?«
»Was soll ich denn jetzt machen?«, schrie ich.
»Kümmern Sie sich um Ihre Tante. Sie braucht Sie jetzt. Und ansonsten tun Sie vor allem eines: Halten Sie sich endlich raus. Bitte! Sie sehen ja, wohin das führt.«
Als Krüger aufgelegt hatte, rief ich das Krankenhaus an. Meine Finger zitterten, als ich die Nummer eintippte, und es dauerte endlos lange, bis jemand dranging. Dann wurde ich von der Schwester zu irgendeiner Ärztin verbunden, die sich erst die Unterlagen holen musste.
»Sie ist noch nicht über den Berg«, bekam ich dann endlich gesagt.
»Kann ich zu ihr?«
»Sie liegt auf der Intensivstation. Sie können sie kurz sehen, wenn Sie wollen.«
»Bitte melden Sie sich unbedingt, wenn es etwas Neues gibt. Ich gebe Ihnen meine Handynummer.« Ich diktierte, nervös ratterte ich die Zahlen herunter. »Haben Sie sie auch genau mitgeschrieben?«, fragte ich.
»Keine Sorge«, sagte die Ärztin. »Sie steht sowieso in der Akte. Sie haben sie uns gestern Abend schon dreimal gegeben. Beruhigen Sie sich.«
Ich verabschiedete mich und ging unter die Dusche. Während das heiße Wasser auf meinen Körper prasselte, wanderten Fetzen von Fragen, Vermutungen und Erkenntnissen durch meinen Kopf. Vor allem Fragen. Wie kann man eine Auswanderung vortäuschen? Warum geht die Frau nicht zur Polizei, wenn der Mann und das Kind umkommen? Ist die Frau auch tot? Wenn ja, wer hat sie umgebracht und warum? Wo ist die Leiche? Wie kam das Kind nach Solingen?
Kinderhandel? Hatten sie das Kind verkauft, um die Auswanderung zu bezahlen?
Nach allem, was ich über Ratnik wusste, traute ich ihm so etwas nicht zu. Die Mutter?
Das Mosaik der Gedankensplitter ergab plötzlich ein furchtbares Bild: Die Mutter, vermutlich eine Brasilianerin, hatte versucht, ihr eigenes Kind zu verkaufen, um falsche Papiere für eine Auswanderung zu bezahlen. Ratnik hatte zwar schon ein ganzes Leben lang von einer Auswanderung geträumt, aber ihm ging das zu weit, und er drohte, zur Polizei zu gehen. Deswegen brachte sie ihn um, verkaufte das Kind und wanderte nach Kanada aus.
Allein? Ohne den Mann, der aus dem Nichts Hütten bauen und in der Wildnis überleben konnte?
Wenn das stimmte - wie passte ins Bild, dass Ratniks Flug nach Kanada aktenkundig war? Obwohl seine Leiche am Bruchberg lag? War das überhaupt Ratnik dort oben?
Hatte sich die Frau als Mann verkleidet und war an seiner Stelle geflogen?
Ich schüttelte den Kopf. Absurd.
Und die Dückraths? Wie passten die ins Bild?
Die handelten vielleicht mit gefälschten Papieren.
Und wer war der Vater des Kindes?
Das konnte jeder sein.
Und wenn der Tote im Wald nicht Ratnik war?
Ich drehte die Dusche ab, bearbeitete mich mit dem Handtuch und zog mich an.
Im Schlafzimmer lag das Holster mit meiner Beretta. Wenn ich das Ding heute Nacht gehabt hätte, wäre die Geschichte anders ausgegangen. Wenn mir diese Dückraths das nächste Mal über den Weg liefen …
Ich nahm die Pistole mit nach unten. Direkt neben meinem alten roten Golf mit der kaputten Seitenscheibe stand Juttas silbern glänzender Sportwagen. Ich unterdrückte einen heftigen Schmerz, der sich plötzlich in meiner Brustgegend ausbreitete, stieg in meinen Wagen und fuhr auf schnellstem Wege nach Gummersbach ins Krankenhaus. Irgendetwas in mir krampfte sich schmerzhaft zusammen, als ich Jutta hinter der Scheibe auf dem Bett liegen sah. Sie wirkte ganz klein zwischen all den Schläuchen und den Messgeräten.
Die Ärztin, eine große Blonde mit
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