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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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»Jeder Bürger unseres Staates wird mir zustimmen, dass wir solchen Zuständen ein Ende setzen müssen.«
    Kurt Wismach, der anfangs auf Ulbricht den Eindruck eines einfachen Arbeiters machte, kochte innerlich, während er sich das übliche heuchlerische Gerede der Kommunisten anhörte. Von einem tückischen Gefühl der Stärke durchströmt, weil er hoch über Ulbricht auf einer Kabeltrommel saß, fing er an, nach jeder Äußerung Ulbrichts spöttisch und demonstrativ lange Beifall zu klatschen. Es hatte beinahe den Anschein, als könne nichts Wismach daran hindern, zu klatschen und in die Stille der Halle hineinzurufen.
    »Und wenn ich auch der Einzige bin: frei wählen!«, schrie er.
    Ulbricht sah zu dem Arbeiter auf und schoss zurück: »Moment mal, Genosse, das wollen wir gleich mal klären!«
    Wismach ließ sich von dem Parteichef, den Millionen Menschen so sehr fürchteten, nicht einschüchtern: »Frei wählen, dann werden wir ja sehen, was dabei herauskommt.«
    Da brüllte Ulbricht ihn an und wandte sich anschließend an die ganze Versammlung
. »Frei wählen! Was wollen Sie denn frei wählen? Das bestimmt die Arbeiterklasse und das Volk!«
    Aber inzwischen sprach Wismach mit dem Mut eines Mannes, der bereits zu weit gegangen war, um klein beizugeben. »Weißt du denn, was das Volk denkt?«, schrie er. Er merkte sofort, dass die meisten Kollegen vor Schreck erstarrten. Niemand stand ihm bei.
    Ulbricht fuchtelte mit den Armen und brüllte, dass die deutschen freien Wahlen der Zwanziger- und Dreißigerjahre dem Land nur Hitler und den Zweiten Weltkrieg beschert hätten. Ob Wismach und die Zuhörer denn noch einmal diesen Weg gehen wollten?
    Nein, nein«, rief eine Minderheit loyaler Parteianhänger in der Menge. Bei jeder weiteren Widerlegung seitens Ulbrichts und seiner Aufforderung an die Menge, ihn zu unterstützen, feuerte die Gruppe den SED-Chef mit ihren Zurufen stärker an.
    Andere Arbeiter, die möglicherweise Wismachs Meinung teilten – vermutlich die Mehrheit —, schwiegen. Ihnen war klar, dass ihnen andernfalls dieselbe Strafe drohte, die ihren vorlauten Kollegen mit Sicherheit erwartete.
    Der einsame Zwischenrufer glaube, er zeige besonderen Mut, geiferte Ulbricht gehässig. Er solle doch den Mut beweisen, den deutschen Militarismus zu bekämpfen!
    Die Parteigenossen jubelten erneut.
    »Wer immer freie Wahlen unterstützt, unterstützt auch Hitlers Generäle!«, rief ein knallroter Ulbricht.
    Die Menge klatschte ein letztes Mal Beifall, während Ulbricht aus der Halle stürmte.
    Am nächsten Tag fragten Parteifunktionäre Wismach unter anderem nach einer möglichen Zugehörigkeit zu westlichen Menschenhandels- oder Spionageorganisationen. Er wurde gezwungen, einen Widerruf seines Ausbruchs zu unterschreiben, und musste sich mit einer Lohnkürzung und Zurückstufung einverstanden erklären, die er lediglich durch harte Arbeit und »politisches Bewusstsein« wieder rückgängig machen konnte.
    Wismach flüchtete kurz danach mit Frau und Kind aus Ostberlin. Er war einer der Letzten, die ohne größere Schwierigkeiten die Grenze passierten. 54

KAPITEL 14
Die Mauer: Die Falle schnappt zu
    Die DDR hatte es mit einem Feind zu tun, der wirtschaftlich sehr leistungsfähig
war und daher bei den Bürgern der DDR großen Anklang fand. […]
Die Folge war eine Abwanderung von Arbeitskräften aus der DDR, der es
ohnehin an einfachen Arbeitskräften – von Fachkräften ganz zu schweigen –
fehlte. Dadurch entstand eine geradezu katastrophale Situation.
Wäre es noch lange in dieser Weise weitergegangen, die Folgen hätten sich nicht
absehen lassen.
    NIKITA CHRUSCHTSCHOW IN SEINEN MEMOIREN ÜBER DIE ENTSCHEIDUNG,
DIE SCHLIESSUNG DER BERLINER GRENZE ZU GENEHMIGEN 1
     
    In der jetzigen Periode wird sich erweisen, ob wir alles wissen und
ob wir überall verankert sind. Jetzt müssen wir beweisen, ob wir die Politik der
Partei verstehen und richtig durchzuführen in der Lage sind.
    ERICH MIELKE, CHEF DER STAATSSICHERHEIT DER DDR,
BEIM ERTEILEN DER LETZTEN INSTRUKTIONEN AM 11. AUGUST 1961 2
    SED-ZENTRALE, OSTBERLIN
MITTWOCH, 9. AUGUST 1961
    Wie ein alter Theaterintendant, der sich auf die Vorstellung seines Lebens vorbereitet, probte Walter Ulbricht in den letzten Stunden, bevor der Vorhang am 13. August aufging, jede Szene mit seinen Gefolgsleuten. Sein Schauspiel mit dem Decknamen »Operation Rose« sollte nur an einem Abend aufgeführt werden. Er würde keine zweite Chance bekommen, etwas zu

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