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Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt

Titel: Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederick Kempe
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korrigieren.
    Selbst das kleinste Detail entging nicht Ulbrichts Aufmerksamkeit, geschweige denn dem Mann, den er zum Regisseur des Spektakels auserkoren hatte: Erich Honecker, den Sicherheitssekretär des Zentralkomitees. Der achtundvierzigjährige
Honecker verfügte über zwei Vorzüge, die ihn auszeichneten: bedingungslose Loyalität und ein unübertroffenes organisatorisches Talent.
    Mit seinem zurückgekämmten, ergrauenden Haar und dem Mona-Lisa-Lächeln hatte Honecker es weit gebracht seit seinen Anfängen als junger kommunistischer Aufrührer, der unter Hitler ein Jahrzehnt im Gefängnis gesessen hatte. Er wusste genau, dass er mit seiner Operation potenzielle Rivalen um die Nachfolge Ulbrichts überholen und den deutschen Sozialismus retten konnte. Ein Scheitern würde das Ende seiner Karriere und möglicherweise seines Landes bedeuten.
    Honeckers letzte Checkliste war ebenso lang wie präzise.
    Er musste genau wissen, ob seine Leute genügend Stacheldraht gekauft hatten, um ihn rings um ganz Westberlin in einem Umkreis von rund 155 Kilometern Länge zu ziehen. Um keinen Verdacht zu erregen, hatte Honeckers Mannschaft die Stacheldrahtbestellungen auf eine Reihe unscheinbarer ostdeutscher Käufer verteilt, und diese hatten ihrerseits mit verschiedenen Herstellern sowohl in Großbritannien als auch in der Bundesrepublik Kontakt aufgenommen.
    Bislang hatte keiner ihrer westlichen Geschäftspartner Alarm geschlagen. Honecker entdeckte keinen Hinweis, dass westliche Geheimdienstbehörden eine Ahnung hatten, was in Kürze passieren würde. Eine Bestellung war eine Bestellung. Lenins Vorhersage ging dem Sicherheitssekretär durch den Kopf: »Die Kapitalisten werden uns noch die Stricke verkaufen, an denen wir sie aufknüpfen werden.« In diesem Fall überboten sich die Kapitalisten mit Mengenrabatten für den Stacheldraht, mit dem die Kommunisten ihre eigenen Leute einschließen wollten. Um diplomatische Probleme zu vermeiden, hatten Honeckers Leute Hunderte von britischen und westdeutschen Herstelleretiketten von dem Stacheldraht entfernt und verbrannt.
    Ostdeutsche Gruppen und ihre sowjetischen Berater hatten jeden Meter der 43,1 Kilometer langen inneren Grenze kartografiert, die quer durch das Stadtzentrum zwischen West- und Ostberlin verlief, sowie die restlichen 111,9 Kilometer, die Westberlin vom ostdeutschen Hinterland trennten. Sie notierten sich ganz genau, welche Besonderheiten sie an jedem Grenzabschnitt erwarteten.
    Am 24. Juli hatte Honeckers Stellvertreter Bruno Wansierski, ein sechsundfünfzigjähriger Parteitechnokrat und gelernter Zimmermann, seinen Vorgesetzten über den Stand des gigantischen Bauprojekts informiert, das er beaufsichtigte. Um den eigentlichen Zweck zu verschleiern, trug Wansierskis
Bericht die harmlose Überschrift: »Übersicht über den Umfang der Pioniermaßnahmen am westlichen Außenring von Berlin«. Wer diese Dokumente im Nachhinein liest, fühlt sich bei der Präzision unweigerlich an die Pläne der Nazis für den Bau und Betrieb der Konzentrationslager erinnert. Ulbrichts Projekt war zwar nicht so mörderisch, doch die Durchführung war wenigstens genauso zynisch und anspruchsvoll.
    Nur drei Wochen vor dem geplanten Termin beschwerte sich Wansierski, der stellvertretende Leiter der Abteilung für Sicherheitsfragen des SED-Zentralkomitees, dass ihm immer noch das nötige Material für fast zwei Drittel der Grenze fehle. Nach der Aufstellung einer Bestandsliste des gesamten »verfügbaren Materials« meldete er, dass ihm immer noch 2100 Betonsäulen, 1100 Kilogramm Krampen, 95 Festmeter Holz, 1700 Kilogramm Bindedraht und 31,9 Tonnen Maschendraht fehlten. Vor allem fehlten ihm jedoch noch 303 Tonnen Stacheldraht, das allerwichtigste Material des ganzen Projekts. 3
    Durch eine hektische Aktivität waren in den zwei Wochen seit Wansierskis Bericht die Lücken gefüllt worden. Am 9. August registrierte Ulbricht zufrieden, dass alles an seinem Platz war. Dutzende von Lastwägen hatten bereits Hunderte von Betonsäulen heimlich aus Eisenhüttenstadt, einer Industriestadt an der Oder in der Nähe der polnischen Grenze, zu einem Lager in Polizeikasernen im Berliner Bezirk Pankow und anderen Orten gebracht. 4
    Mehrere Hundertschaften waren aus ganz Ostdeutschland auf dem riesigen Gelände des Ministeriums für Staatssicherheit bei Hohenschönhausen am Rand von Ostberlin zusammengezogen worden. Viele bauten sogenannte Spanische Reiter zusammen: hölzerne Böcke, die als

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