Berlin 1961 - Kennedy, Chruschtschow und der gefährlichste Ort der Welt
beschwerte sich darüber, dass die potenziellen wirtschaftlichen Auswirkungen einer Schließung der ostdeutschen Grenze nicht früher mit den sowjetischen Verbündeten diskutiert worden seien, insbesondere weil sein Land zu fast einem Drittel seiner Volkswirtschaft vom Handel mit dem Westen abhängig sei – und ein Viertel dieses Volumens betreffe die Bundesrepublik.
Chruschtschow schäumte vor Wut:
Ich bin der Meinung, wir müssen der DDR helfen. Lasst uns, Genossen, dies besser, tiefer und sorgfältiger untersuchen. […] Jetzt werden wir, Genossen, alle der DDR helfen. Ich werde nicht sagen, wer von euch am meisten helfen wird. Alle müssen mithelfen und müssen noch mehr helfen. Sehen wir es doch einmal so: Wenn wir jetzt nicht unsere Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse der DDR lenken und keine Opfer bringen, dann können sie sich nicht halten; sie haben nicht die nötige innere Stärke.
»Was würde es heißen, wenn die DDR aufgelöst würde?«, wollte Chruschtschow von den Parteisekretären wissen, die ihm gegenübersaßen. Ob es ihnen lieber sei, wenn das westdeutsche Heer vor ihrer Haustür stehe? Durch die Stärkung der Position Ostdeutschlands »festigen wir unsere Position«, sagte er, frustriert über die mangelnde Solidarität, die in seinem Block herrschte. In einem Bündnis, in dem sich die meisten Mitglieder vom Westen kaum bedroht fühlten, aber wirtschaftlich zunehmend von ihm abhängig waren, hatten Chruschtschows Argumente keine große Überzeugungskraft.
Als die anderen kommunistischen Parteichefs Chruschtschow fragten, warum er sich keine großen Sorgen wegen einer militärischen Antwort der USA mache, sagte der Sowjetführer ihnen, der Westen habe bislang längst nicht so resolut auf seinen wachsenden Druck und seine Drohgebärden reagiert, wie er befürchtet habe. Die Vereinigten Staaten hätten sich, so Chruschtschow, mit Blick auf Berlin »als nachgiebiger erwiesen als angenommen«. Er räumte ein, dass der Gegner »gewiss noch sein wahres Gesicht zeigen könne, aber wir können bereits jetzt sagen, dass wir mehr Druck erwarteten, doch der bislang stärkste Einschüchterungsversuch ist Kennedys Rede gewesen«.
Chruschtschow sagte seinen Verbündeten, dass die Vereinigten Staaten in seinen Augen »kaum regiert« würden und dass der US-Senat ihn an das mittelalterliche russische Fürstentum Nowgorod erinnere, wo die Bojaren »schrien, brüllten und sich gegenseitig an den Bärten zogen; auf diese Weise entschieden sie, wer recht hatte«.
Er sprach geradezu nostalgisch von der Zeit, als John Foster Dulles noch US-Außenminister war, der zwar ein Antikommunist gewesen sei, aber »mehr Stabilität« in der sowjetisch-amerikanischen Beziehung garantiert habe. In Bezug auf Kennedy sagte Chruschtschow, er habe »Mitleid mit ihm. […] Er ist ein viel zu großes Leichtgewicht sowohl für die Republikaner als auch für die Demokraten. « Chruschtschow war zuversichtlich, dass sein schwacher und unentschlossener Widersacher nicht auf nennenswerte Weise reagieren werde. 53
Ulbricht reiste zurück, als der Countdown bis zum wichtigsten Tag seines Lebens – und seines Landes – begann. Aber zuerst stand ihm noch ein letztes Scharmützel mit dem ostdeutschen Proletariat bevor.
Ulbricht und Kurt Wismach geraten aneinander
KABELWERK OBERSPREE, OSTBERLIN
DONNERSTAG, 10. AUGUST 1961
Obwohl die Operation in weniger als achtundvierzig Stunden beginnen sollte, hielt Walter Ulbricht einen Routinetermin ein: eine Begegnung mit Arbeitern des Kabelwerks Oberspree im südlichen Teil Ostberlins. Rund tausendfünfhundert Personen versammelten sich in einer riesigen Halle, alle in Overalls und Holzschuhen, die sie vor Stromschlägen und geschmolzenem Metall schützten. Manche kletterten an den Streben der Kräne hoch, um einen besseren Blick zu haben; andere saßen auf vier Meter hohen Kabeltrommeln.
Der SED-Chef berichtete, dass er erst kürzlich aus Moskau zurückgekehrt sei, und sagte der Menge, es sei zwingend notwendig, unverzüglich einen Friedensvertrag zwischen der DDR und dem ruhmreichen Genossen und Verbündeten, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, zu unterzeichnen. Mit kämpferischer Stimme erklärte er sinngemäß: Niemand kann den Sozialismus aufhalten. Nicht einmal jene, die den Sklavenhändlern in die Hände gefallen sind. Er sagte, der Flüchtlingsstrom, den er »Menschenhandel und Menschenraub« nannte, koste die ostdeutsche Wirtschaft jährlich zweieinhalb Milliarden Mark.
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