Berlin Alexanderplatz: Die Geschichte von Franz Biberkopf (German Edition)
wissen, kommen 700, nein 900 Verhinderungen.« »Und was für ein Grund ist denn, Terah, gerade diesen zu beschützen, es ist ein gewöhnlicher Mensch, ich sehe nicht, warum wir ihn beschützen.« »Gewöhnlich, ungewöhnlich, was ist das? Ist ein Bettler gewöhnlich und ein Reicher ungewöhnlich? Der Reiche ist morgen ein Bettler und der Bettler morgen ein Reicher. Dieser Mann hier ist dicht daran, sehend zu werden. So weit sind viele gekommen. Aber er ist auch daran, hörst du, er ist dicht daran, fühlend zu werden. Sieh, Sarug, wer viel erlebt, wer viel erfährt, hat leicht die Neigung, nur zu wissen, und dann – zu entweichen, zu sterben. Er mag dann nicht mehr. Die Bahn des Erlebens hat er durchmessen, dabei ist er müde geworden, sein Körper und seine Seele haben sich daran abgemüdet. Verstehst du das?« »Ja.«
»Aber nachdem man vieles erlebt und erkannt hat, noch festzuhalten, nicht hinzusteigen, nicht zu sterben, sondern sich auszustrecken, hinzustrecken, zu fühlen, nicht auszuweichen, sondern sich zu stellen mit seiner Seele und standhalten, das ist etwas. Du weißt nicht, Sarug, wie du geworden bist, was du bist, was du warst und wie du dazu kommen konntest, hier mit mir zu gehen und andere Wesen zu beschützen.« »Das ist wahr, Terah, das weiß ich nicht, mein Gedächtnis ist mir ganz genommen.« »Es kommt dir langsam wieder. Man ist nie stark von sich aus, von sich allein, man hat schon etwas hinter sich. Stärke will erworben sein, du weißt nicht, wie du sie erworben hast, und so stehst du jetzt da, und dir sind Dinge keine Gefahren mehr, die andere umbringen.« »Aber er will uns ja nicht, dieser Biberkopf, du sagst ja selbst, er will uns abschütteln.« »Er möchte sterben, Sarug, es hat noch niemand einen sehr großen Schritt getan, diesen furchtbaren Schritt getan, ohne zu wünschen, er möchte sterben. Und du hast recht, es erliegen da auch die meisten.« »Und bei diesem hier hast du Hoffnung?« »Ja, weil er stark und unverbraucht ist, und weil er schon zweimal standgehalten hat. So wollen wir bei ihm bleiben, Terah, ich möchte dich selbst darum bitten.« »Ja.«
Ein junger Doktor, Bombenfigur, sitzt vor Franz: »Guten Tag, Herr Klemens. Verreisen Sie, nach Todesfällen kommt das öfter vor. Man muß eine andere Umgebung aufsuchen, das ganze Berlin wird Sie jetzt bedrücken, Sie brauchen ein anderes Klima. Wollen Sie sich nicht ein bißchen zerstreuen? Sie sind seine Schwägerin, hat er jemand zur Begleitung?« »Ich kann auch so fahren, wenns sein muß.« »Muß; ich sage Ihnen, Herr Klemens, ist das einzige, was da zu machen ist: Ruhe, Erholung, ein bißchen Ablenkung; Ablenkung, aber nicht zuviel. Das schlägt gleich ins Gegenteil um. Immer mit Maß. Jetzt ist noch überall die beste Saison; wo wollen Sie denn hin?« Eva: »Kräftigungsmittel, sind die nicht auch gut, Lezithin, und dann besserer Schlaf?« »Schreibe ich Ihnen alles auf, warten Sie mal, Adalin.« »Adalin hab ich schon gegeben.« (Brauch das Giftzeug nicht.) »Dann nehmen Sie Phanodorm, abends eine Tablette mit Pfefferminztee; Tee ist gut, dann wird das Mittel schneller aufgenommen. Und dann gehen Sie mit ihm inn Zoo.« »Nee, ich bin nicht für Tiere.« »Na, dann inn Botanischen Garten, bißchen Zerstreuung, aber nicht zuviel.« »Schreiben Sie ihm doch noch ein Nervenmittel auf, für Kräftigung.« »Vielleicht könnte man ihm bißchen Opium geben für die Stimmung.« »Ich trink schon, Herr Doktor.« »Nee, lassen Sie mal, Opium ist doch was anderes, aber ich gebe Ihnen hier Lezithin, ein neues Präparat, Gebrauchsanweisung steht drauf. Und dann Bäder, beruhigende Bäder, Sie haben doch Badeeinrichtung, gnädige Frau?« »Alles da, natürlich, Herr Doktor.« »Also, sehen Sie, das ist der Vorteil von den neuen Wohnungen. Da sagt man natürlich. Bei mir war das nicht so natürlich. Ich habe mir alles einbauen lassen, hat klotziges Geld gekostet, das Zimmer auch mit Malerei, würden staunen, wenn Sie das sehen, das haben Sie hier nicht. Also Lezithin und Bäder, jeden zweiten Vormittag eines, und dann noch einen Masseur, ordentlich durchkneten alle Muskeln, daß der Mensch ordentlich in Bewegung kommt.« Eva: »Ja, das ist richtig.« »Ordentlich kneten, passen Sie auf, dann wird Ihnen schon freier, Herr Klemens. Passen Sie auf, kommen schon aufn Damm. Und dann verreisen.« »Ist nicht leicht mit ihm, Herr Doktor.« »Macht nichts; wird schon. Also, Herr Klemens, wie ist es?« »Was denn?« »Nicht den Kopf
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