Berlin Alexanderplatz: Die Geschichte von Franz Biberkopf (German Edition)
ich will zu Mieze, ich muß auf einen Friedhof hin, da haben sie sie eingebuddelt.
Die fünf Verbrecher, die Spatzen, sind wieder bei ihm, die sitzen oben auf einer Telegraphenstange und schreien runter: Geh hin zu ihr, du Strolch, hast du denn Mut, schämst du dich nicht, zu ihr hinzugehen? Sie hat nach dir gerufen, wie sie in der Kute lag. Kuck sie dir an auf dem Friedhof.
Für die Ruhe unserer Toten. In Berlin starben 1927 ohne Totgeborene 48 742 Personen.
4570 an Tuberkulose, 6443 an Krebs, 5656 an Herzleiden, 4818 an Gefäßleiden, 5140 an Gehirnschlag, 2419 an Lungenentzündung, 961 an Keuchhusten, 562 Kinder starben an Diphtherie, an Scharlach 123, an Masern 93, es starben 3640 Säuglinge. Geboren wurden 42 696 Menschen.
Die Toten liegen auf dem Friedhof in ihren Gärten, der Wärter geht mit seinem Stock, sticht Papierfetzen auf.
Es ist halb sieben, noch ganz hell, da sitzt auf ihrem Grab vor einer Buche eine ganz junge Frau im Pelzmantel ohne Hut, senkt den Kopf und spricht nicht. Sie hat schwarze Glacés an, einen Zettel in der Hand, ist ein kleines Kuvert, Franz liest: »Ich kann nicht mehr leben. Grüßt noch einmal meine Eltern, mein süßes Kind. Mir ist das Leben zur Qual. Nur Bieriger hat mich auf dem Gewissen. Er soll sich gut amüsieren. Mich hat er nur als Spielball benutzt und ausgesogen. Ein großer gemeiner Lump. Wegen ihn bin ich nur nach Berlin gekommen, und er allein hat mich unglücklich gemacht, ein ruinierter Mensch bin ich geworden.«
Franz gibt ihr das Kuvert wieder: »O weh, o weh: Ist Mieze hier?« Nicht traurig sein, nicht traurig sein. Er weint: »O weh, o weh, wo ist meine kleine Mieze?«
Da ist ein Grab wie ein großer weicher Diwan, ein gelehrter Professor liegt drauf, der lächelt zu ihm herab: »Was bekümmert Sie, mein Sohn?« »Ich wollte Mieze sehen. Ich komm hier bloß lang.« »Sehn Sie, ich bin schon tot, man muß das Leben nicht zu schwer nehmen und den Tod auch nicht. Man kann sich alles erleichtern. Wie ich genug hatte und krank wurde, was hab ich gemacht? Meinen Sie, ich werde warten, bis ich mich durchliege? Wozu? Ich habe die Morphiumflasche neben mich stellen lassen, und dann habe ich gesagt, man soll Musik machen, Klavier spielen, Jazzmusik, die neusten Schlager. Ich hab mir aus Platon vorlesen lassen, das große Gastmahl, das ist ein schönes Gespräch, und heimlich habe ich mir währenddessen unter der Bettdecke Spritze nach Spritze gegeben, habe sie gezählt, die dreifach tödliche Dosis. Und immer hab ich noch das Klimpern gehört, lustig, und mein Vorleser sprach vom alten Sokrates. Ja, es gibt kluge Menschen und weniger kluge Menschen.«
»Vorlesen, Morphium? Wo ist bloß Mieze?«
Schrecklich, unter einem Baum hängt ein Mann, seine Frau steht daneben, jammert, wie Franz kommt: »Kommen Sie doch rasch, schneiden Sie ihn ab. Er will nicht in seinem Grab bleiben, immer steigt er wieder auf die Bäume und hängt schief.« »O Gott, o Gott, warum denn?« »Mein Ernst war so lange krank, ihm konnte keiner helfen, und sie haben ihn auch nicht verschicken wollen, sie haben immer gesagt, er verstellt sich. Da ist er in den Keller gegangen und hat sich einen Nagel und einen Hammer mitgenommen. Ich hab noch gehört, wie er im Keller hämmert, ich denk, was macht er, ist gut, daß er was arbeitet und nicht immer so rumsitzt, vielleicht baut er einen Kaninchenstall. Dann ist er am Abend nicht raufgekommen, da hab ich Angst gekriegt und denke, wo bleibt er, sind denn die Kellerschlüssel schon oben, die waren noch nicht oben. Dann sind die Nachbarn runtergegangen, und dann haben sie die Schupo geholt. Er hat sich einen starken Nagel in der Decke eingeschlagen, dabei war er so dünn, aber er wollte sicher gehen. Was suchen Sie, junger Mann? Wat winseln Sie denn? Wollen Sie sich umbringen?«
»Nee, mir ist meine Braut umgebracht worden, ich weiß aber nicht, ob sie hier liegt.«
»Ach, suchen Sie man da hinten rum, da sind die Neuen.«
Dann liegt Franz am Weg neben einem leeren Grab, er kann nicht brüllen, er beißt in die Erde: Mieze, was haben wir denn gemacht, warum haben sie das mit dir gemacht, du hast doch nichts getan, Miezeken. Was kann ich machen, warum schmeißt man mich nicht auch in son Grab, wie lang geht das noch mit mir?
Und dann steht er auf, kann schlecht gehen, rafft sich zusammen, schwankt zwischen den Gräberreihen raus.
Da steigt Franz Biberkopf, der Herr mit dem steifen Arm, draußen in ein Auto, und das trägt ihn nach dem Bayrischen
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