Berlin Alexanderplatz: Die Geschichte von Franz Biberkopf (German Edition)
Wirklichkeit übertroffen. Wie auch die Jahre entschwinden, wohlgefällig bleibt dieser Anblick, und ihre Haltbarkeit und praktische Verwendbarkeit erfreuen immer von neuem. –
Die Schließgesellschaften beschützen alles, sie gehen herum, gehen durch, sehen hinein, stecken Uhren, Wachalarm, Wach- und Schutzdienst für Groß-Berlin und außerhalb, Wachbereitschaft Deutschland, Wachbereitschaft Groß-Berlin und ehemalige Wachabteilung der Wirtsgemeinschaft Berliner Grundbesitzer, vereinigter Betrieb, Wachzentrale des Westens, Wachgesellschaft, Sherlock-Gesellschaft, Sherlock Holmes gesammelte Werke von Conan Doyle, Wachgesellschaft für Berlin und Nachbarorte, Wachsmann als Erzieher, Flachsmann als Erzieher, Waschanstalt, Wäscheverleih Apoll, Wäscherei Adler übernimmt sämtliche Hand- und Leibwäsche, Spezialität feine Herren- und Damenwäsche.
Über den Läden und hinter den Läden aber sind Wohnungen, hinten kommen noch Höfe, Seitengebäude, Quergebäude, Hinterhäuser, Gartenhäuser. Linienstraße, da ist das Haus, wo sich Franz Biberkopf verkrochen hat nach dem Schlamassel mit Lüders.
Vorn ist ein schönes Schuhgeschäft, hat vier glänzende Schaufenster, und sechs Mädchen bedienen, das heißt, wenn was zu bedienen ist, haben um 80 Mark im Monat pro Kopf und Nase, und wenn es hochkommt und sie grau geworden sind, haben sie 100. Das schöne große Schuhgeschäft gehört einer alten Frau, die hat ihren Geschäftsführer geheiratet, und seitdem schläft sie hinten, und es geht ihr schlecht. Er ist ein fescher Mann, den Laden hat er hochgebracht, aber er ist noch nicht 40, und das ist das Unglück, und wenn er spät nach Hause kommt, dann liegt die alte Frau wach und kann vor Ärger nicht einschlafen. – Im ersten Stock der Herr Rechtsanwalt. Gehört das wilde Kaninchen im Herzogtum Sachsen-Altenburg zu den jagdbaren Tieren? Der Verteidiger bestreitet zu Unrecht die Annahme des Landgerichts, daß das wilde Kaninchen im Herzogtum Sachsen-Altenburg unter die jagdbaren Tiere zu zählen sei. Welche Tiere jagdbar sind und welche dem freien Tierfang unterliegen, hat sich in Deutschland in den einzelnen Ländern sehr verschieden entwickelt. Bei dem Mangel besonderer gesetzlicher Vorschriften entscheidet darüber das Gewohnheitsrecht. In dem Entwurf zum Jagdpolizeigesetz vom 24. 2. 54 war das wilde Kaninchen noch nicht mitgenannt. – Abends um 6 tritt eine Aufwärterin im Büro an, fegt, wischt das Linoleum in dem Wartezimmer auf. Zu einem Staubsauger hat es bei dem Herrn Rechtsanwalt noch nicht gereicht, olle Knauserei, wo der Mann nicht mal verheiratet ist und die Frau Zieske, was sich Hausdame schimpft, das doch wissen soll. Die Aufwärterin schrubbert und putzt gewaltig, sie ist unheimlich dürr, aber elastisch, für ihre beiden Kinder schuftet sie. Die Bedeutung der Fette für die Ernährung, das Fett überkleidet die Knochenvorsprünge und schützt das darunterliegende Gewebe vor Druck und Stoß, hochgradig Abgemagerte klagen daher über Schmerzhaftigkeit an den Sohlen beim Gehen. Das trifft aber für diese Aufwärterin nicht zu.
An seinem Schreibtisch sitzt um 7 Uhr abends Herr Rechtsanwalt Löwenhund und arbeitet vor zwei brennenden Tischlampen. Das Telephon geht zufällig nicht. In der Strafsache Groß A 8 780–27 überreiche ich in der Anlage Vollmacht der angeschuldigten Frau Groß auf mich. Ich bitte ergebenst, mir allgemeine Sprecherlaubnis zu erteilen. – An Frau Eugenie Groß, Berlin. Sehr geehrte Frau Groß, es war schon längst meine Absicht, Sie wieder einmal aufzusuchen. Infolge Arbeitsüberlastung und Unpäßlichkeit war es mir jedoch nicht möglich. Ich hoffe bestimmt, Sie nächsten Mittwoch besuchen zu können, und bitte Sie, sich bis dahin noch zu gedulden. Hochachtungsvoll. Briefe, Geldanweisungen und Paketadressen sind mit der persönlichen Adresse unter Beifügung der Gefangenennummer zu versehen. Als Bestimmungsort ist Berlin NW 52, Moabit 12 a, anzugeben.
– An Herrn Tollmann. In Angelegenheit Ihrer Tochter muß ich um weiteres Honorar, und zwar um 200 Mark bitten. Ich stelle Ratenzahlung anheim. Zweitens: wieder vorlegen. – Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt, da ich gern meine unglückliche Tochter in Moabit besuchen möchte, aber nicht weiß, woran ich mich zu wenden habe, so möchte ich Sie herzlich bitten, dafür zu sorgen, wann ich nach dort kommen könnte. Und zugleich ein Gesuch zu machen, daß ich derselben alle 14 Tage ein Päckchen mit Lebensmitteln zukommen lassen kann.
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