Berlin - ein Heimatbuch
erst recht nicht wissen. Wozu gibt es Kreditkarten. Allerdings muss ich noch einen Weg finden, wie man die lästigen monatlichen Abrechnungen umgehen kann.
Karl lässt eine Viertelstunde auf sich warten. Und erscheint dann stolz wie Käpt’n Nuss, mit einem Riesenkarton unter dem Arm.
»Was’n das?«, frage ich neugierig.
»Ein Super-Ding: Designer-Kaffee-Automat. Auslaufmodell, fast 60 Prozent runtergesetzt.«
Verdammt. Ein Kaffee-Automat! Ich wusste, da war noch was, das ich kaufen wollte!
Wilmersdorfer Witwen
Ursprünglich stammt die Bezeichnung aus dem Kultmusical »Linie 1«, das 1986 im Grips-Theater uraufgeführt wurde. Die vier Witwen Martha, Lotti, Agatha und Fiedel singen dort:
Ja, wir Wilmersdorfer Witwen verteidigen Berlin,
sonst wär‘n wir längst schon russisch, chaotisch und grün.
Was nach uns kommt ist Schiete,
denn wir sind die Elite.
Im Musical werden die Damen als intolerante, hochnäsige und kleingeistige Rentnerinnen charakterisiert. Im Berliner Volksmund bezeichnet die »Wilmersdorfer Witwe« eine wohlhabende und alleinstehende ältere Frau, die in einem der besseren bürgerlichen Bezirke Westberlins zu Hause ist, eine überaus konservative Weltsicht vertritt und diese auch lautstark äußert.
Es gibt so viele Sänger an der Spree
Bepackt wie Kofferkulis stehen wir im dichten Gedränge der hinein- und hinausdrängenden international bunten KaDeWe-Kundschaft und vergleichen unsere Beute. Da ich mich kein zweites Mal in das Auge des Hurrikans vorkämpfen möchte, muss ich dringend überlegen, wie ich Karl den Kaffee-Automaten abschwatzen kann. Aber dazu müssen wir unbedingt erst einmal aus dem Gedränge raus.
Ich bugsiere den Schwaben vor mir her Richtung Wittenbergplatz.
»Wahnsinn, was hier los ist, über mangelndes Kaufinteresse braucht sich der Laden nicht zu beklagen«, meint der überwältigte Wessi.
»Vierzig- bis sechzigtausend Kunden täglich. In der Vorweihnachtszeit können es auch schon mal 100.000 werden«, präzisiere ich kennerhaft. »Pass auf, ich schlage vor, wir machen einen kleinen Stopp bei meinem Lieblingsrestaurant. Ist quasi direkt ums Eck. Keine Sorge, ich lade dich ein«, ergänze ich beschwichtigend, als ich seinen erschrockenen Gesichtsausdruck sehe. Der Designerautomat hat ihm sicher die letzten Kröten aus der Tasche gezogen. Schnäppchen hin, Schnäppchen her. Also muss es eine Chance für mich geben, auf günstige Art an das edle Teil heranzukommen. Aber das muss gut vorbereitet sein. Bloß kein unbedachter Schnellschuss.
Der Ausblick auf kostenloses Spachteln erhellt Karls Miene in Sekundenschnelle.
»Na gut, wenn das so ist ...«
Eigentlich wollte ich ja unbedingt vermeiden, meinem Gast, der jede einmal gespeicherte Information zwanghaft ausplaudert, Svens Lieblings-Imbissbude zu zeigen. Aber meine Lust auf eine Tüte krosser Pommes ist einfach stärker. Menschen sind nun einmal willenlose Sklaven ihrer Süchte. Vor Fritz & Co steht die übliche Schlange urbaner Gourmets. Ich drücke Karl meine Tüten in die Hand und reihe mich ein.
Karls Miene verfinstert sich wieder. Offenbar hatte er auf einen schicken Restaurantbesuch spekuliert. Die Imbissbude ist eine tiefe Enttäuschung.
»Junge, mach es dir bequem«, sage ich jovial, auf einen der Stehtische deutend.
»Baba holt uns Futter. Was soll es denn Leckeres sein?«
Karl stellt unsere KaDeWe-Trophäen unter den Dreibeiner und schaut mich streitlustig an. »Naturellement, was der Chef de Cuisine ’eute empfiehlt«, näselt er mit schlecht imitiertem französischen Akzent.
»Oh oui, Charles, isch würdä Ihnen empfehlen, eine Pommes der Terre mit eine deliciöuse Bio-Curry-Saucisson von glückliche Schweine an einer Sauce Erdnüss’.«
Er nickt meinen Vorschlag widerwillig ab. Und ist wenig später restlos begeistert.
Während wir unser Edel-Fast-Food goutieren, baut sich uns gegenüber ein kleiner Mann auf. Ein Mitglied der in Berlin inzwischen allgegenwärtigen Akkordeonmafia. Musikalische Umweltverschmutzung der übelsten Art. Meist kleine Kinder oder alte, genauso kleine Männer, denen rumänische Schieberbanden auf der Ziehharmonika drei trommelfellschädigende Töne beigebracht haben. Manchmal reicht es mit viel Müh und noch mehr Not auch zu zusammenhängenden Tonfolgen, die man mit viel gutem Willen als »When the Saints Go Marching In« identifizieren könnte. Höchste Zeit abzuhauen, um nicht als Zwangsgeisel der Foltermusik zu enden. Aber dann müsste ich entweder meine
Weitere Kostenlose Bücher