Berlin Fidschitown (German Edition)
ihm der Gastgeber mit zitternden Fingern reichte. Er musterte die Altersflecke auf der Hand des Greises und gab sich mundfaul. Das war nie falsch. Spätestens in Thailand hatte er gelernt, zu gegebenem Anlass zu schweigen. Vor allem im Beisein Älterer war das wichtig. Je länger und ausgiebiger man den Mund hielt, desto besser. Es vermittelte den Eindruck, demütig zu sein. Was einem dabei im Kopf herumging, war unerheblich.
Torn ging eine Menge durch den Kopf. Wie hatte der steinalte Mann es nur geschafft, mit all dem Gemüse so viel Kohle zu machen? Zigaretten, gut, das wäre einleuchtend gewesen, aber gesundes Grünzeug, und das in Konkurrenz zu den Türken in dieser Stadt, alle Achtung. Der Greis hockte hier bescheiden in einer ärmlichen Außenstelle seines Unternehmens und gab sich als freundlicher und etwas seniler Opa. Und so nannten sie ihn auch alle: Großvater . Und das mit jeder Menge Respekt, daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Opa war absolut sauber. Aber er hatte seine Verbindungen. Gott sei Dank, denn ein gewisser Gustav Torn war zurzeit dringend auf diese Verbindungen angewiesen.
Der Vietnamese schlürfte seinen Tee und schwieg, als sei alles Wesentliche schon gesagt.
Auch im hohen Alter bestand die Kunst des Lebens im bedächtigen Einüben von Geduld. Trotzdem war es Torn ein Rätsel, woher der Mann seinen Status nahm. Man munkelte, er sei ein „Moritzburger“ der damals nicht nach Hanoi zurückgekehrt sei, einer jener legendären Elitepimpfe aus Nordvietnam, die Onkel Ho Mitte der Fünfzigerjahre zu Bruder Ulbricht geschickt hatte, damit sie in jenem Ort nahe Dresden ausgebildet werden konnten. Alles Kinder verdienter Kader, die angeblich heutzutage noch „Im schönsten Wiesengrunde“ singen konnten, wenn auch mit leicht sächsischem Akzent. Aber das war natürlich alles Quatsch, konnte gar nicht sein, denn dazu war Opa nun wirklich zu alt. Diese vietnamesischen Knirpse waren damals im Alter von zehn bis fünfzehn Jahren nach Sachsen gekommen und jetzt höchstens sechzig. Großvater war ein Greis. Außerdem: wie hätte er bei einem Leben in der DDR die authentische Aura eines Mandarins entwickeln sollen? Und dass er mit allem, was kein Landsmann war, ausschließlich in Französisch verkehrte, sprach ebenfalls gegen diese Legende. Deutsch hatte Torn nie aus Opas Mund gehört, erst recht kein Sächsisch – wenn er auch vorsichtig war, was derartige Bescheidenheiten anging, ein Typ wie Opa arbeitete mit allen Tricks, und Tiefstapelei war bei diesen asiatischen Senioren geradezu eine Frage der Ehre. Die Boat-people-Variante, die auch im Umlauf war, hielt Torn für wesentlich wahrscheinlicher. Obwohl sich da auch so einiges nicht richtig zusammenreimte.
Torn betrachtete die beiden kugelförmigen Glasvasen, die auf einem länglichen Altartisch standen. Sie dienten als Aquarien. Jede Vase beherbergte einen Kampffisch. Zwischen den Vasen war gut ein halber Meter Abstand, und der rote und der blaue Fisch nahmen keine Notiz voneinander, während ihre Flossen wie bunte Schleier im Wasser schwebten. Die Kampffische und der weinrot lackierte Altartisch waren die einzigen Dekorationsgegenstände, die dem kargen Raum eine asiatische Note verliehen, einmal abgesehen von den beiden holzgeschnitzten Reihern, die den Eingang flankierten. Die Vögel sahen billig aus, wie aus einem Folkloreladen für Touristen, aber Torn hatte sie beim Eintreten sofort bemerkt. Reiher waren Symbole der Wachsamkeit.
Nach einer derart langen und wohl ausreichenden Wartepause hielt es Gustav Torn für angemessen, konkreter auf die Mitteilung des Gastgebers einzugehen. „Ich bin froh, dass es endlich so weit ist.“ Er deutete einen Diener an.
Großvater quittierte die Ehrbezeugung mit einer leichten Neigung des Kopfes.
„Die ewigen Wohnungswechsel reichen mir auch allmählich.“ Torn milderte seine Klage sofort mit dem Hauch eines Lächelns ab. „Ich werde das Gefühl nicht los, jeder in der Stadt weiß trotzdem, wo ich stecke.“
Der Greis ging nicht darauf ein.
Torn beschäftigte sich mit seinem Tee und wartete auf genauere Instruktionen. Für Sekundenbruchteile glaubte er den penetranten Gestank reifer Durianfrüchte zu riechen. Es musste eine Täuschung sein. Thai International flog zwar inzwischen alles von der Orchidee bis zum Phuket-Hummer frisch ein, aber es war nicht die Jahreszeit für Durian.
„Morgen früh um vier auf der Bärenbrücke“, sagte Großvater. „Nur Sie. Niemand sonst. Und ohne
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