Berlin Fidschitown (German Edition)
und mit Holzstangen weit genug unter die Eisdecke schoben.
Nachdem alle fünf Leichen im See versunken waren, füllten die Männer das Loch wieder mit Eisschollen auf und zogen mit ihren Schlitten davon. Dem Frost blieben noch einige Stunden Zeit für seinen Anteil an der Arbeit. Rechtzeitig vor Anbruch der Morgendämmerung würden sie zurückkommen, das Zelt abbauen, die Warnpyramiden entfernen, gegebenenfalls etwas Schnee über den festgefrorenen Schollen verteilen und die Gefahrenstelle mit Ästen und Zweigen markieren, so wie es die Angler machten, die tagsüber ihrem Hobby nachgingen. Natürlich war es ein recht großes Angelloch, das sogar einem Spaziergänger oder einer Schlittschuhläuferin ein verwundertes Kopfschütteln wert sein konnte. Doch würde wohl kaum jemand nach Art und Größe der Fische fragen, die unter der Eisdecke überwinterten.
Die Männer wussten: Der Captain hatte allen Grund, mit ihnen und ihrer Arbeit zufrieden zu sein.
29
Am späten Morgen nahm Farang die S-Bahn bis zur Station Friedrichsfelde-Ost.
Vor dem Bahnhofsgebäude orientierte er sich kurz. Im Schneetreiben waren die Straßenschilder nur undeutlich zu erkennen. Weiße Flocken fielen dicht und weich auf schlecht geräumte Gehsteige. Eine gelbe Tram hielt auf dem Mittelstreifen der Rhinstraße. Nur eine einzige Person stieg aus, überquerte Gleise und Fahrbahn und lief eilig auf einen beleuchteten Mietblock zu, der wie der letzte Außenposten der Zivilisation durch den Schneevorhang schimmerte.
Farang ließ die Straßenbahn ziehen. Er schlug den Mantelkragen hoch, zog die Kapuze über den Kopf, und wickelte den Schal enger um den Hals. Dann marschierte er den breiten Straßenstrang entlang nach Norden, vorbei an ausgestorbenen Kleingartenkolonien und verlassenen Gewerbegebäuden. Tony hatte mit seinem Verweis auf Sibirien wohl doch nicht so ganz danebengelegen. Nur selten schob sich ein Pkw oder ein Bus mit Abblendlicht an ihm vorbei. Die Autos fuhren vorsichtig. Der letzte Streuwagen schien die Strecke schon Stunden zuvor versorgt zu haben.
Die erste Welle des Berufsverkehrs hatte er schon früh am Morgen in einem Bahnhofsimbiss am Alexanderplatz ausgesessen. Nur wenige Stationen mit der U-Bahn genügten, um ihn zur Vernunft zu bringen. Er wollte auf keinen Fall inmitten durchgedrehter Lemminge totgetrampelt werden. Seine deutschen Halbbrüder und -schwestern hetzten mit geradezu gnadenloser Energie und Konsequenz der Lohnarbeit entgegen. Getriebene, die sich tollkühn und ohne Rücksicht auf eigene und fremde Knochen die Stufen hinab in die Tiefe stürzten, als kämen die Züge nicht im Dreiminutentakt sondern nur einmal die Woche vorbei. Verpassten sie eine U-Bahn nur knapp, fluchten sie frustriert, dem Nervenzusammenbruch nahe, obwohl sich der nächste Zug bereits mit lautem Rattern im Tunnel ankündigte. Auch er hatte zunächst mitgezuckt, hatte sich anrempeln lassen und selbst die Ellenbogen ausgefahren. Er erinnerte sich, bei früheren Besuchen im Geburtsland seines Vaters, bereits nach wenigen Wochen deutliche Zeichen der Anpassung an den Tag gelegt zu haben. Er wusste nur zu genau, welche Macken man annahm, wenn man sich unter Deutschen aufhielt. Doch diesmal war er fest entschlossen, Widerstand zu leisten. Deshalb hatte er am Alexanderplatz bei Kaffee, Sandwich und Zeitung eine Pause eingelegt und abgewartet, bis der erste Ansturm der Horden sich erschöpfte.
Er überquerte die Allee der Kosmonauten und blieb einen Augenblick stehen, um die tauben Zehen zu bewegen und den Schnee aus den Profilsohlen zu trampeln. Dann zog er weiter, vorbei an Mietblöcken, die völlig leer standen und deren Fenster blind in den dunklen Tag glotzten. Neben einer Haltestelle lungerten drei junge Vietnamesen herum. Sie musterten ihn feindselig. Er ignorierte sie und stapfte weiter. Für Hunde, die den Schwanz einzogen, hatte er ein Gespür.
Nur wenig später erreichte er das abgelegene Gewerbegebiet. Er wusste nicht, ob er sich noch in Lichtenberg oder bereits in Marzahn befand. Es war auch nicht wichtig. Wichtig war das Schild mit den roten Buchstaben auf weißem Grund. Textiliengroßhandel Giao Quan Ao – 50 Meter weiter . Darunter hing ein Hinweis auf Vietnamesisch. Er ließ die Einfahrt zum Kundenparkplatz eines anderen Großhandels rechts liegen und wanderte weiter. Das Gelände neben der Stichstraße war verwildert. Büsche duckten sich unter ihrer Schneelast, und aus einem zugefrorenen Tümpel ragte Schilfrohr. Ein
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