Berlin Gothic 3: Xavers Ende
Sonst wirfst du mir am Ende noch vor, ich hätte dich nicht gewarnt!“
8
Till hörte das leise patschende Geräusch von Max‘ nackten Füßen, die über die Steinfliesen in der Halle huschten und über die Treppe in den ersten Stock.
Alles in ihm schrie danach, seinem Freund hinterher zu laufen. Er hatte gesehen, wie Max gezittert hatte, wie er versucht hatte, der Wucht seines Vaters etwas entgegenzusetzen, wie er schließlich mit gesenktem Kopf aus dem Zimmer gestürzt war. Aber einfach vom Tisch aufstehen? Till wusste, dass Julia ihren Kindern beigebracht hatte, um Erlaubnis zu fragen, wenn sie aufstehen wollten, bevor das Essen beendet war. Sollte er jetzt wirklich der erste sein, der das Wort ergriff? Um ‚Darf ich aufstehen‘ zu sagen?
„Till?“
Er hob den Kopf. Doch Bentheim schaute bereits wieder zu seiner Frau. „Ich würde gern zwei Worte mit Till reden, ja? Wir setzen uns kurz in den Wintergarten.“
Julia erhob sich. „Sicher … “
Bentheim warf Lisa einen Blick zu. „Sorg dafür, dass deine Mutter die Sachen in der Küche für Rebecca stehen lässt, die kann sich morgen darum kümmern.“ Dann legte er eine Hand auf Tills Schulter. „Kommst du?“
Till schaute in das lange, blasse Gesicht des Mannes, sah, wie freundlich er ihn anblickte, und fragte sich für einen Moment, ob der Zorn, mit dem Bentheim eben Max angefahren hatte, von einem anderen Menschen ausgegangen war.
Der Wintergarten grenzte unmittelbar an das geräumige Wohnzimmer, in das man vom Esszimmer aus durch einen breiten Durchgang gelangte. Der an drei Seiten verglaste Jugendstilanbau war mit exotischen und mediterranen Pflanzen vollgestellt, in der Mitte stand ein eiserner Tisch. Till wusste, dass Max‘ Vater den Wintergarten besonders liebte, er hatte ihn schon öfter dabei beobachtet, wie er sich um die Orangenbäumchen, die Palmen und die Oleanderbüsche gekümmert hatte.
„Setz dich“, hörte er Bentheim sagen und sah, wie dessen dünne Hand auf einen der hochlehnigen Eisenstühle zeigte, die um den Tisch mit der Marmorplatte gruppiert waren. Eilfertig hockte sich Till auf den Stuhl, seine Füße berührten kaum den Boden. Bentheim nahm ihm gegenüber Platz.
„Du denkst jetzt wahrscheinlich, dass ich zu streng mit Max war“, sagte er nach einer Minute des Schweigens, die blauen Augen auf Till gerichtet, die Stimme weich, der Mund zu einem Lächeln verbogen.
Till schob seine Hände unter die Oberschenkel, die Handflächen nach oben. War etwas dran an dem, was Max ihm im Krankenhaus über seinen Vater gesagt hatte?
„Ich habe in den vergangenen zwölf Jahren alles versucht, um mit Max klarzukommen“, fuhr Bentheim fort, „und ich bin sicher, du wirst mich verstehen, wenn du Max einmal besser kennengelernt haben wirst. Ich weiß, ihr seid gut befreundet, und wenn ich so alt wäre wie du, würde ich auch jeden, der so wie ich vorhin mit meinem Freund geredet hätte, von Herzen verabscheuen. Aber … “, er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander, „aber es wird der Tag kommen, an dem du begreifen wirst, dass ich so handeln musste. Womit ich gar nicht sagen will, dass Max - aus irgendeinem Grund, der dir noch verborgen wäre - ein besonders gefährlicher oder verkommener Mensch wäre. Er ist nur einfach … “, wieder brach Bentheim ab, als suchte er noch nach den richtigen Worten, „ … also kurz gesagt, er ist den Anforderungen einfach nicht gewachsen.“
Die Augen von Max‘ Vater schweiften kurz ins Wohnzimmer, wie um zu sehen, ob dort jemand weilte und ihnen womöglich zuhörte. Dann richteten sie sich wieder auf Tills Gesicht, als wollte er die Wirkung seiner Worte überprüfen. „Kannst du mir folgen?“
„Ja.“ Anforderungen - was für Anforderungen?
„Gut.“ Bentheim beugte sich vor. „Hör zu, Till, ich weiß, du willst zu Max, ihn ein wenig trösten, deswegen will ich mich kurz fassen. Ich habe dich immer geschätzt. Ich kenne dich nicht besonders gut, aber das bisschen, was ich von dir bisher mitbekommen habe, hat mir gefallen. Du stehst, wie man so schön sagt, mit beiden Beinen im Leben, auch wenn du noch sehr jung bist. Du hast Ehrgeiz, aber er vernebelt dir nicht dein Urteilsvermögen. Du schaust einem geradeaus in die Augen. Du kannst charmant sein, wenn du willst, bist aber von den Versuchungen der Eitelkeit verschont. Du scheinst einigermaßen stringent denken zu können und wenn du den Mund aufmachst, dann hat das, was du sagst, Hand und Fuß.“
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