Berlin Gothic 3: Xavers Ende
hätte: Ich will schreiben - ohne dass ich es getan hätte. Vergeude keine Zeit damit, zu überlegen, was du willst , Junge. Mach es einfach. “
Max starrte auf die Wolldecke, unter der seine Beine lagen. Was redete sein Vater da? Was sollte das?
„‘Ich muss doch wissen, was ich will‘, scheinst du sagen zu wollen, Max“, hörte er ihn weitersprechen. „Du musst? Ich denke, du musst gar nichts!“
Max blickte auf und sah, wie sich sein Vater erhob, während er fortfuhr. „Ja? Bist du meiner Meinung? Oder willst du auch dagegen noch was einwenden? Deinen Geschwistern noch ein bisschen weiter den Kopf verdrehen! Meinst du nicht, dass es genügt, wenn einer von uns auf der Couch liegen muss, weil er zu schwach ist, um am Tisch zu sitzen?“
„Ich bin nicht wie du“, flüsterte Max, die Stimme so fest wie er konnte - aber sie klang brüchig, belegt, heiser.
„Wenn du machen willst, was du machen willst, drehst du dich nur im Kreis, Max“, fuhr ihn sein Vater an. „Du wirst aus dem Lauschen auf deinen vermeintlichen Willen niemals herauskommen. Jede Entscheidung ist falsch - in dem Moment, wo du im Zweifel bist, ob du so oder so entscheiden sollst, bist du schon auf dem Holzweg!“
Max‘ Augen sprangen zur Mutter. Nahm sie das alles so hin?
„Xaver, lass ihn, es geht ihm noch nicht so gut“, hörte Max sie sagen, als ob sie erst durch seinen Blick den Drang verspürt hätte, sich einzumischen.
„Ist das denn nicht das beste Zeichen dafür, dass ich recht habe?“, erwiderte sein Vater mit fast beängstigend klarer Stimme. „Er ist so in seine Zweifel verstrickt, dass er noch nicht einmal weiß, ob er essen soll!“ Er hatte sich zum Tisch gewendet und sah seine Frau an. Als sie jedoch nichts erwiderte, sondern hilflos nach Worten zu suchen schien, schaute Max‘ Vater wieder zu seinem Sohn. „Merkst du nicht, wie der Zweifel, der an dir nagt, schon angefangen hat, den gesunden Körper, den ich und deine Mutter dir mitgegeben haben, aufzufressen? Ist der Zweifel das, was von DIR stammt, Max? Deine Persönlichkeit, dein Ich - oder wie auch immer du es nennen willst? Dein Willen, auf den du so stolz bist? Ist es das dein Wille, Max, das, was dir sagt, dass du deinen Körper verhungern lassen sollst?“
Er deutete mit flacher Hand auf seine Frau und die anderen Kinder, die am Tisch saßen. „Sieh sie dir an, Max, deine Familie, eine herrliche Ahnenreihe. Und dann kommst du, oder? Das ist doch, worum es dir geht. Du selbst, dein Wille. Aber was ist das? Wer bist du, außer dass wir dich gezeugt haben, Max. Max? Ach was! Vergiss den Namen, den hab ich dir doch gegeben! Denk an dich unter einem anderen Wort, nicht als ‚Max‘ - das ist, was du von uns hast - denk an dich als ‚ich‘. Dieses Ich, diese Seele, die dir aus dem Spiegel entgegenstarrt, wenn du hineinsiehst. Das bist du: Namenlos, hilflos, verletzlich. Und weißt du, was das ist? Ich sage dir, was das ist: Es ist der Schadstoff, der in die Entwicklung hineingespritzt wurde, in eine Entwicklung, die bis dahin nichts anderes war als ein großartiger Triumph. DU bist der Schadstoff, Junge - und weißt du auch warum? Weil du nicht machst, was du machen musst, sondern wollen willst! “
Max hatte sich auf den Rand der Couch gesetzt und spürte, wie seine Beine zitterten. Seine Arme lagen in seinem Schoß, die nackten Füße ruhten nur wenige Schritte von den Schuhen seines Vaters entfernt auf dem Boden. Sein Gesicht aber glühte.
Er wusste, dass Till auf seinen Teller schaute, dass Till auf seiner Seite war - aber die anderen? Woher sollten sie wissen, ob sein Vater nicht recht hatte? Woher sollte er es wissen?
Ich lass mich von dir nicht zertreten, stampfte es in Max und der Trotz loderte in ihm. ‚Auch wenn du recht hast: Ich bin ich und irgendwann wirst du alt sein und klapprig und in einem Bett liegen, und ich werde angezogen sein und daneben stehen!‘
Gleichzeitig aber huschte auch noch ein anderer Gedanke durch einen hinteren Winkel seines Kopfes: Würde sein Vater ihn vielleicht gar nicht sehen wollen, wenn er im Sterben lag? Sicherlich würde er seine letzten Minuten nicht mit einem Schadstoff verbringen wollen …
Und Max senkte den Kopf, weil er nicht wusste, was er seiner Scham entgegensetzen sollte.
„Tut mir leid, Max“, hörte er die Stimme seines Vaters, „aber es hat doch keinen Sinn, wenn ich dir nicht offen sage, was ich von deinen Ideen halte, auf die du dir - das weiß ich doch - durchaus etwas einbildest.
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