Berlin Gothic 3: Xavers Ende
auf ihn zu, um leiser sprechen zu können. „Ich hab mich gefragt, woher das kommt. Diese Verachtung, diese Geringschätzung … Es ist ja fast so, als würde er wütend auf mich sein, weil ich ihn enttäuscht habe. Aber dass er mir das vorwirft, das ist doch krank, oder? So war das früher auch nicht.“
Max beugte sich noch ein wenig näher an Tills Ohr heran. „Das ist nicht mein Vater, Till - ich hab‘s dir gesagt. Ich kenne meinen Papa - aber der Typ, der im Esszimmer da gerade vor mir stand: Das ist er nicht. “
„Wie - das ist er nicht?“ Till war sich nicht sicher, ob er ihn richtig verstanden hatte. „Wer ist es denn dann? Er sieht aus wie dein Vater, er schläft im Schlafzimmer bei deiner Mutter … “
„Hast du verstanden, was er gesagt hat?“, unterbrach ihn Max.
Till schüttelte den Kopf. „Du hast ja recht. Deswegen meine ich: Achte nicht drauf, dein Vater ist irgendwie überreizt im Moment … vielleicht ist er krank.“
„Siehst du“, fiel Max ihm ins Wort, „krank! Das meine ich doch. Er ist krank - krank im Kopf, im Hirn, was weiß ich, wie das genau zusammenhängt. Aber wenn sich was in deinem Hirn verschiebt, verformt, verändert … dann kann es doch sein, dass du ein anderer Mensch wirst, oder? Was du magst und was nicht, was dir wichtig ist, worüber du lachst, das alles ist doch in deinem Hirn festgelegt. Wenn sich da was verformt, ändert sich dein Charakter, deine Persönlichkeit. Und genau das - anders kann ich es mir einfach nicht erklären - genau das ist mit Papa passiert.“
Das klingt jetzt nicht vollkommen unplausibel, musste Till denken.
„Und wenn man sich dann noch weiter verändert“, fuhr Max fort, „dann … also dann … “, er wirkte, als würde er vor dem, was er sagen wollte, selbst zurückschaudern, „ … dann ist man irgendwann auch kein Mensch mehr, oder? Ist doch logisch.“
„Meinst du?“ Till sah ihn unschlüssig an.
Max zögerte, aber dann schien ihn doch eine unterschwellige Überzeugung zu übermannen. „Er ist kein Mensch mehr“, flüsterte er, „ich sag‘s dir.“
Kein Mensch mehr. „Sondern?“
„Sondern, sondern … “, äffte Max Till nach. „Du hast die Abteilung im Krankenhaus ja nicht gefunden, sonst wüsstest du, was ich meine!“ Seine Augen starrten Till an, das Rote an den Rändern schien ein wenig ins Augenweiß hineingeschossen zu sein, die Augenhöhlen waren zurückgesprungen, die Schläfen vorgewölbt. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern, aber die Worte drangen in Tills Kopf wie Nadelstiche. „Ich hab‘s dir gleich gesagt: Sie haben ihn ausgehöhlt, sich an seine Stelle gesetzt.“
Für einen Augenblick hatte Till das Gefühl, in dem Badezimmer zu ersticken und das Fenster aufreißen zu müssen. Aber dann zwang er sich, Max‘ Worte an sich abprallen zu lassen und zu lächeln. „Hast du dich mal im Spiegel gesehen, Mann? Wenn einer hier wie ein Zombie aussieht, dann du.“
Max‘ Blick ruhte kurz auf Tills Gesicht, dann musste auch er grinsen. „Scheiße“, flüsterte er und ging an Till vorbei aus dem Bad.
11
Als Till Max‘ Zimmer betrat, hatte sich sein Freund bereits aufs Bett geworfen und das Gesicht im Kissen vergraben. Till schloss die Tür hinter sich, schob einen Stuhl an das Bett und setzte sich darauf. Eine Weile sprach keiner von beiden ein Wort. Endlich drehte sich Max auf den Rücken. Jetzt, wo er auf dem Bett lag, schien wieder ein wenig Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt zu sein.
„Ich weiß nicht, was sie aus ihm gemacht haben“, sagte er mit belegter Stimme. „Ich habe ihn immer geliebt, weißt du?“ Seine Augen suchten die von Till, wanderten aber sogleich wieder ins Leere, als er sah, dass er Tills Aufmerksamkeit hatte. „Klar, mein Vater war immer ein bisschen komisch. Andere Väter sind mit ihren Jungs ins Schwimmbad gegangen oder ins Stadion, sie haben zusammen Fußball gespielt? Mein Vater nicht. Richtig viel zusammen gemacht, haben wir eigentlich nie.“ Sein Blick fokussierte sich wieder auf Tills Gesicht. „Am meisten noch haben wir geredet. Früher habe ich versucht, mehr von ihm zu erfahren: Was er gut findet, was schlecht, was ihm wichtig ist und was nicht. Eine Zeitlang hat er sich mit mir übers Schreiben unterhalten, weißt du, darüber dass es ein Reich der Phantasie gibt, der Unwirklichkeit, das man nur betreten kann, indem man Geschichten liest - oder eben sich welche ausdenkt. Das hat mich natürlich fasziniert. Wenn er davon sprach, konnte ich
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