Berlin Gothic 3: Xavers Ende
Sachbuch“, antwortete Bentheim, „vielmehr ein Buch, das so aussieht wie eines, das in Wahrheit aber nur eine erfundene Geschichte präsentiert. Die Leute sollten sich fragen: Ist das wirklich so passiert - oder hat sich das einer ausgedacht? Deshalb wollte ich in einem zweiten Schritt dafür sorgen, dass diese Filme auftauchen. Um die Diskussion noch einmal anzuheizen, verstehst du! Wenn sich die Leute darauf geeinigt haben würden, dass nichts von dem, was in dem Buch stand, der Wahrheit entsprechen konnte, sollten die alten Filmrollen auf einem Flohmarkt auftauchen und sich plötzlich die Frage stellen, ob die Bilder des Films nicht der beste Beweis dafür waren, dass das, was in dem Buch stand, eben doch die volle Wahrheit war.“
Till bemerkte, wie Bentheim ihn von der Seite ansah. ‚Überprüft er, ob ich ihm das abnehme?‘ „Wow“, hauchte er. „Wahnsinn.“
Bentheims Augen waren direkt auf ihn gerichtet. „Oder? Allein die Fotos von den Tierversuchen … das haben wir alles mit sehr viel Mühe hergestellt. Wenn es dich interessiert, kann ich dir mal zeigen, wie ich mir das Buch genau vorgestellt habe.“
Ja, dachte Till, klar, das würde mich schon interessieren - doch stattdessen hörte er sich etwas anderes sagen. „Aber … warum haben Sie das Buch denn nicht fertig gestellt, wenn Sie alles schon so genau vorbereitet hatten?“
Nichts wäre ihm lieber gewesen, als auf das, was Max‘ Vater ihm gerade erzählt hatte, eingehen zu können - doch sein Kopf tat ihm diesen Gefallen nicht. Er raunte ihm vielmehr zu, dass Max vielleicht doch recht hatte , dass es vielleicht doch falsch war, Bentheim zu vertrauen , dass er sich vielleicht doch lieber vor ihm in Acht nehmen sollte.
„JA!“, Bentheim antwortete so laut, dass Till regelrecht zusammenzuckte, „du hast recht - warum habe ich das Projekt eigentlich aus den Augen verloren?!“ Sein Gesicht wirkte plötzlich wie von einem grauen Schatten überhuscht - auch wenn die Lippen weiterhin ein Lächeln formten und die Augen zu freundlichen Schlitzen verengt waren. „Alles klar?“ Abrupt stand er auf. „Oder willst du noch etwas anderes wissen?“
Tills Hände klammerten sich an die Unterkante des Liegestuhls. ‚Ja‘, schrie es in ihm, ‚ich will wissen, wieso Sie mich aufgenommen haben. Ich will wissen, warum Sie Max so quälen!‘
Aber niemals hätte er den Mut aufgebracht, das zu fragen. Stattdessen blickte er verwirrt und schweigend auf den Boden. Und als er nach einem Augenblick des Verlorenseins wieder aufschaute, war Bentheim schon zehn Meter weiter über den Rasen auf das Gartenhaus zugeschritten, den Kopf tief zwischen die Schulter gezogen, die Hände in die Taschen seiner Hosen vergraben.
Würde er in den Keller hinabsteigen und hinter der Tür in der Holztäfelung verschwinden? Till hatte ihn angesprochen, weil er gehofft hatte, nach einem Gespräch Max‘ aberwitzige Verdächtigungen zerstreuen zu können. Jetzt aber, wo Till das Gespräch hinter sich hatte, war er sich nicht einmal mehr sicher, ob es nicht doch unvorsichtig gewesen war, Bentheim anzuvertrauen, dass sie die Kartons mit den Tagebüchern und den Filmen gefunden hatten.
Im gleichen Moment sah er, wie Max‘ Vater plötzlich noch einmal stehen blieb und sich umdrehte.
„Till?“
Till schnellte von dem Liegestuhl hoch.
„Ja?“
„Ich würde dir gern etwas zeigen? Hast du Lust?“
NEIN! Till holte Luft. „Jetzt gleich?“
„Ja, jetzt gleich. Also, was ist - kommst du?“
8
Julia blieb wie angewurzelt stehen. Durch die Blätter des Laubengangs, der ganz von dem wuchernden Wein bedeckt war, sah sie Till und Xaver kaum zwanzig Meter von ihr entfernt auf dem Rasen stehen. Till war eben von dem Liegestuhl aufgestanden, auf dem er gesessen hatte, und zu Xaver gelaufen, der sich jetzt zu ihm herunterbeugte.
„Ich gehe den Weg nicht allein, Julia, ich bahne ihn für andere“, gingen ihr Xavers Worte durch den Kopf. Vorhin im Arbeitszimmer - das war nicht das erste Mal gewesen, dass sie seltsame Buchstabenfolgen und unverständliche Wortgebilde in einem von Xavers Texten entdeckt hatte. Vor ein paar Wochen hatte er einige Seiten im Wohnzimmer liegen gelassen und sie hatte ihn darauf angesprochen.
„Was ich sagen will, lässt sich mit den herkömmlichen Worten nicht ausdrücken“, hatte er ihr geantwortet. „Ich muss eine ganz neue Sprache erfinden, denn nur so lässt sich das Gebiet erschließen, auf das ich es abgesehen habe.“
Sie hatte kein
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