Berlin Gothic 3: Xavers Ende
wieder raus sein. Xaver war zu Felix in die Stadt gefahren, aber er hatte gesagt, dass er ab Drei wieder in seinem Arbeitszimmer wäre. Und sie wusste, dass er sich an seine Ankündigungen hielt.
Julias Blick schweifte durch den Raum und fiel auf eine Reihe von gleich großen, weißen Kartons, die die Fächer eines Regals an der Wand füllten. Sie trat an einen der Kartons und zog ihn ein Stück weit heraus. Er war bis oben hin voll mit betippten DIN-A-4-Blättern.
Sie hatte das noch nie gemacht - in Xavers Arbeitszimmer herumschnüffeln. Und doch ging sie jetzt seine Sachen durch. Max dünn und blass im Krankenhausbett liegen zu sehen, hatte Julia zu diesem Entschluss gebracht. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass die schwere Krise ihres Jungen etwas mit Xaver zu tun haben könnte.
Julia stellte den Karton zurück ins Regal und zog den daneben stehenden hervor. Ihr Blick fiel auf die Fußzeile des obersten Blatts.
„Xaver Bentheim - Berlin Gothic - Thriller“.
Berlin Gothic …
Den Titel hatte sie von ihm bisher noch nie gehört. Es musste das Manuskript sein, an dem er gerade arbeitete. Auf dem obersten Blatt stand fett gedruckt und mittig die Zahl 367. Aber es war nicht die Seitenzahl.
Es war die Kapitelnummer .
Kapitel 367?
Julia schob den Karton zurück ins Regal und trat einen Schritt nach hinten, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Das Regal bestand aus vier einzelnen, recht schmalen Elementen, die über jeweils sechs Fächer verfügten. Und in jedem Fach standen drei Kartons nebeneinander.
Julia überschlug es im Kopf. Vier mal sechs mal drei. Zweiundsiebzig.
In dem Karton, den sie zuerst angeschaut hatte, hatte die Zahl 309 in der Mitte gestanden. Ungefähr sechzig Kapitel pro Karton … sechzig mal zweiundsiebzig … das machte … 4320 …
4320 Kapitel?
Was in aller Welt …
Sie trat an den letzten Karton in der untersten Reihe und hob den Deckel hoch. Auch diese Pappschachtel war bis oben hin mit Blättern gefüllt. Aber … Julia hob das oberste Blatt hoch, um das darunter liegende anzusehen. Doch auch das zweite Blatt war wie das erste - komplett mit Zahlen bedeckt!
Sie ließ die übrigen Seiten, die sich in dem Karton befanden, durch die Finger gleiten. Überall das gleiche Schriftbild: Dreißig Zeilen pro Blatt voller Ziffern. Ohne Leerzeichen, ohne Absatz, ohne Einrückungen. Seite pro Seite saubere Blöcke aus Ziffern von eins bis neun.
Xaver schrieb Zahlen? Julia fühlte, wie ihre Hände feucht wurden.
Es ist ein Code, versuchte sie sich einzureden, natürlich! Er hat das nicht so getippt. Er hat Sätze geschrieben, wie sonst auch, nur sind die einzelnen Buchstaben - sicherlich nach einem ganz einfachen Schlüssel - in diesen Code übersetzt! War es um so einen Code nicht auch in der Geschichte von dem Jungen gegangen, die Xaver Max und Till neulich vorgelesen hatte?
Julia starrte auf den Zahlenblock. Auch das Leerzeichen musste eine Ziffer sein - deshalb konnte man auf der Seite keine einzelnen Wörter unterscheiden! Ebenso jedes Satzzeichen und der Absatz! So ergab sich auf ganz natürlichem Weg das blockartige Schriftbild - so außergewöhnlich war das doch gar nicht …
Aber wieso? Wieso ein Code? Weil er fürchtet, jemand könnte seinen Text lesen und die Ideen entwenden? Eine andere Erklärung fiel Julia nicht ein.
Nur … war eine derartig übersteigerte Vorsicht nicht selbst schon merkwürdig?
Nein! Fast zuckte sie unter dem scharfen Ton zusammen, mit dem sie sich selbst zurechtwies. Es war nicht merkwürdig! Im Gegenteil, es war klug von ihm!
Julia warf einen Blick auf die Uhr. Vier Minuten vor Drei. Hastig zog sie den Schreibtischstuhl an das Regal, stieg darauf, riss den ersten Karton links oben hervor und schob den Deckel zurück.
Unter den Titelblättern: Eine fette Eins in der Mitte der Seite. Erstes Kapitel. Und unter der Kapitelnummer? Wörter! Keine Zahlen! Der Karton flog zurück, sie streckte sich, angelte den letzten Karton aus dem ersten Fach.
Ihre Augen glitten über den Text. Die Beschreibung einer Kleinstadt, ein idyllischer Sonntagmorgen … Sonnenschein, ein Frühlingstag … Xaver hatte sich große Mühe gegeben und offenbar lange an jedem einzelnen Satz gefeilt. Fast hatte Julia den Eindruck, als hätte er versucht, mit dem Klang der Sätze das Summen der Insekten nachzubilden, das sich unwillkürlich in ihren Kopf geschlichen zu haben schien, als sie sich in seine Beschreibung des Ortes vertiefte. Eine Beschreibung, in der
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