Berlin Gothic 3: Xavers Ende
gestellt hatte.
„Ja, ich will es nicht entscheiden.“
Er sah Bentheim nicken. „Du musst dich nicht quälen“, hörte er ihn sagen. „Du kannst die Schuld auch einfach abgeben, Junge, loswerden - für immer.“
Till zitterte. Sollte doch der Zufall über das Leben der beiden Hunde entscheiden, dann war er wenigstens nicht schuld am Tod von einem von ihnen.
„Ist es nicht, als würde sich ein Tonnengewicht von dir lösen, wenn du von der Entscheidung befreit bist?“, hörte er Bentheim sagen.
Ja. Ja, es war wie eine Befreiung.
„Das ist es, was uns zusammenhält, Till“, fuhr Bentheim fort und sah ihn von unten an. „Uns, die Leute, die du beim Papageienkampf gesehen hast, die Leute, für die ich arbeite. Es ist uns etwas klar geworden, vor dem viele andere noch immer die Augen verschließen.“
Kann ich jetzt wieder nach oben ans Tageslicht?
„Dass das, was die Menschen Freiheit nennen - dass es eine Illusion ist, weißt du Till?“
Till wischte mit der Hand über seine beiden Augen.
„Es stimmt nicht“, hörte er Bentheim weitersprechen, „du kannst nicht frei entscheiden - es kommt dir nur so vor. Wenn du etwas tust, dann ist das, wie wenn ein Stein einen Abhang herunterrollt. Es findet einfach statt. Nicht DU entscheidest das. Du bist nur ein winziger Teil eines riesigen Ganzen.“
Die Luft in der Röhre stank nach Kloake - wie hielten es die Hunde hier nur aus?
„Wenn du das begreifst, wenn du begreifst, dass es dir nur so vorkommt, dass du in Wirklichkeit nicht entscheidest, ist es wie ein Rausch, eine Feier, ein Fliegen. Merkst du es?“
Ein Stein, der einen Abhang herunterrollt?
„Es ist Geschwindigkeit, Vollzug, Durchführung. Es ist eine Kraft, ein Pflug, Veränderung und Dynamik, Gestaltung und Bewegung. Es ist das SEIN - und du bist ein Teil davon!“
Wie eine ganze Welt, die nur aus stinkenden Betonröhren besteht …
„Wir sind viele, Till, ich habe dir nur einen winzigen Teil gezeigt - aber es gibt eine ganze versteckte Stadt hier unten - eine versteckte Stadt, die uns gehört.“
Till rieb mit dem Handrücken seine Nase trocken. Hinter der Scheibe standen die beiden Hunde und sahen ihn an. Sie lebten noch immer. Beide. Er würde sie nicht töten lassen! Max‘ Vater meinte es gut mit ihnen.
Und plötzlich kam es Till so vor, als würde eine riesige Glückswolke aus seinem Bauch heraus in seinen Kopf quillen. Das war kein Totenreich hier unten, kein Abgrund, keine Sackgasse, in der er verrotten musste. Max‘ Vater war kein grausamer Schlächter, der seinen Sohn opferte, ihn opferte, sich wie eine Ratte durch den Untergrund der Stadt wühlte. Er wollte helfen, er hatte etwas im Blick, wofür Till bisher nur die Weitsicht gefehlt hatte!
Alles wird gut, spürte Till und hob den Blick. Er fühlte, wie ein Lächeln in seinem Gesicht aufglomm, wie sich seine verkrustete Haut verzog, wie Funken in seine Augen traten und Bentheim seinen Blick auffing …
Da war es, als würden die Dämme brechen, als würde Till ein bisher ungekanntes Gemeinschaftsgefühl packen und mit sich fortreißen. Das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, zusammenzugehören, die Welt zu den Füßen zu haben. Mit einem Mal glaubte er zu wissen, wie ALLES - Till wusste gar nicht, wie er es nennen sollte, aber er wusste, was er meinte - wie alles, was es gab, das Universum, das Weltall mit allen Planeten zusammenhing und wie er ein Teil davon war, ein Teil des Ganzen!
Er hatte die Welt bisher immer nur wie verborgen wahrgenommen, verborgen hinter einem Schleier der Unsicherheit, des Zweifels, der Schuld und der Selbstvorwürfe. Riss er den Schleier beiseite, sah er die Dinge endlich so, wie sie wirklich waren. Er stand der Welt nicht gegenüber - er war ein Teil von ihr.
Plötzlich glaubte Till regelrecht vor sich zu sehen, wie die gesamte Schöpfung in ihm gipfelte, sich in ihm nach vorn wölbte, mit ihm an der Spitze durch die Raumzeit raste. Ja, war er nicht die vorderste Spitze des Ganzen, des Seins, des Alls, all dessen, was es gab?! Die äußerste Vorhut eines Riesenwesens, als das er das Universum plötzlich begriff? Agierend im Vollbewusstsein des Richtigen, des sich Vollziehenden, des Voranfliegens der Zeit!
‚Es stimmt‘, hörte Till sich denken, ‚es stimmt, was Bentheim sagt!‘ Er musste nicht länger überlegen, wie er entscheiden sollte, es entschied sich ja immer schon von selbst in ihm!
Er sah, wie Bentheim sich von der Scheibe abwandte, hinter der die beiden Hunde
Weitere Kostenlose Bücher