Berlin Gothic 3: Xavers Ende
Blick auf seine Armbanduhr. Kurz nach ein Uhr nachts.
Sein Begleiter ist schon ein paar Schritte weiter.
Till setzt sich in Bewegung, holt ihn ein. Das Gesicht des Mannes wirkt in dem fahlen Licht noch bleicher als vorher, die Narben scheinen zu glänzen. Aber man sieht sie kaum, er hat den breiten Kragen seines Mantels hochgeschlagen.
Die Aufregung der letzten Stunden hat Till davon abgelenkt, jetzt aber beginnt die Erinnerung langsam zurückzukehren: Wie ist er in den Kellerraum geraten, an dem die Frau an der Decke gehangen hat?
Auf der Beerdigung! Er ist den ganzen Tag lang auf der Beerdigung gewesen! Die Glocke der Friedhofskapelle hatte geläutet, als würde der Tod persönlich den Klöppel schwingen und kraftvoll gegen die Bronze schmettern. Das frisch ausgehobene Loch im Boden hatte Till angeglotzt, als wollte es ihn am liebsten gleich mitverschlingen.
Alle sind dagewesen: Julia, Butz, Claire, Nina, Henning, Betty … stundenlang haben sie bei dem Loch gestanden, bis jeder einzelne vorgetreten war und einen Augenblick am Grab verweilt hat. Danach sind sie in ein Gasthaus in der Nähe des Friedhofs gegangen. Ein riesiger Saal war für die Trauergäste gemietet worden und obwohl es noch recht früh am Vormittag gewesen war, hatte Till angefangen zu trinken - rücksichtsloser als vielleicht jemals zuvor in seinem Leben …
Bis …
Bis er auf der Matratze zwischen den Gestalten in dem Kellerloch wieder aufgewacht ist, mit der Frau an den Fischhaken an der Decke …
Till sieht, wie seine Füße über die Fliesen des U-Bahn-Gangs schreiten, sieht am oberen Blickfeldrand den Saum des Mantels seines Begleiters, sieht, wie der Mann die Treppe vor ihnen emporzusteigen beginnt …
Zuvor aber hat er sie wiedergesehen! Zwei Jahre lang waren sie sich nicht begegnet … Als er ihr auf dem Friedhof gegenüberstand, war es, als hätte er kaum noch Luft bekommen, so begehrenswert und vertraut zugleich ist Lisa ihm vorgekommen.
„Hey.“
Sie haben das Ende der Treppe erreicht. Über ihnen ragt der Fernsehturm bis in den Nachthimmel über der Stadt. Das Rauschen der Autos, der Bahnen, der Menschen klingt auf dem riesigen Areal des Platzes entrückter als irgendwo sonst in der Stadt.
Sein Begleiter sieht sich zu ihm um. Es wirkt, als habe er unter freiem Himmel endgültig all seine Macht eingebüßt. Seine mageren Schultern sind unter dem Mantel bis zu den Ohren gezogen, sein Schritt hat etwas Stolperndes bekommen, die langen Finger seiner Hände hat er in den Taschen verborgen.
Till sieht ihn an. „Du bringst mich zu Lisa, hast du gesagt?“
Der Mann hebt das Kinn, in seinem Blick meint Till lesen zu können, wie wenig er mit Till gemeinsam zu haben glaubt.
„Wo ist sie denn jetzt?“
„Wer?“
„Na, Lisa!“ Till spannt die Bauchmuskeln an. „Sag schon!“
„Zu Hause, komm jetzt!“
Aber Till rührt sich nicht. „Und wo ist das: Zu Hause?“ - du Idiot!
Der Mann fingert an seinen Narben, die sich von seinen Mundwinkeln emporziehen, als müsste er erst einmal selbst überlegen - aber dann kommt seine Antwort so plötzlich, dass sie Till trifft wie eine Ohrfeige.
„Bei Felix, wo denn sonst!“
2
50!! Nicht 100, nicht 200, nicht 80, nicht 60.
50.
Wenn Du schneller fährst, passiert etwas.
ABER ICH MUSS -
auf die Autobahn, ich muss auf die Autobahn!
Hier rechts runter!
50, du darfst nicht schneller fahren …
Hier geht es runter, vorn ist die Auffahrt.
Setz den Winker, atme tief ein, okay, jetzt einschwenken, gut,
100.
Mehr ist hier auch nicht erlaubt.
Haaaaaaaa diese Geschwindigkeit … alles andere ist unerträglich, alles andere als die Beschleunigung.
Stadtauswärts, du musst raus aus der Stadt!
Dort gibt es eine Strecke ohne Geschwindigkeitsbegrenzung …
Die Nummernschilder, gut, richtig teuer waren sie nicht, aber wenn jemand den Wagen gesehen hat …
Es ist schon in Ordnung, niemand wird darauf kommen, dass es polnische Imitate sind …
100, nicht schneller als hundert - lass ihn doch überholen …
Die Mietwagenfirma rufe ich morgen an.
Heute ist es unmöglich,
ich kann jetzt mit niemanden sprechen,
es hat sowieso keiner geguckt,
oder?
Ich bin die Straße doch langgefahren,
es war in dem Moment niemand dort unterwegs.
(Aber sie hat geschrien - hast du sie nicht schreien gehört?)
Hier, hier kannst du schon etwas schneller werden …
ICH HABE SIE SCHREIEN GEHÖRT!
(Aber ich hatte im Kaufhaus die Brille auf und die Mütze - )
Ich habe ihre Haut gespürt, ihre
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