Berlin Gothic 3: Xavers Ende
unruhig ?‘ Lisa spürte, wie der klare Blick des Mannes ihr folgte. Als sie endlich hinter der Tür im Haus verschwunden war, wo er sie nicht länger sehen konnte, war es, als wäre sie aus prallem Sonnenschein heraus in den Schatten gelangt.
Der Eindruck aber blieb. Der Eindruck, dass von Quitzow nicht nur mit ihr gesprochen hatte, wie noch nie jemand zuvor, sondern dass er sie auch angeschaut hatte, wie noch kein Mann jemals zuvor.
3
Heute
„HEY!“
Till hört es, aber er kann den Kopf nicht wenden. ‚Wo haben sie all die Ratten her?‘, ist, was er denken muss.
„ANSCHÜTZ!“
Er sieht die Stecknadelkopf-Augen der Tiere, die über den Zement stürzen, spürt die Struppigkeit ihres Fells, das gegen seine Hosen drückt, fühlte das Zucken ihrer Körper, die zwischen seine Beine gequetscht werden.
‚Der Raum wird mit ihnen ausgefüllt werden, sie werden bis zur Decke gespült werden, es wird niemals aufhören, die Wand gegenüber wird anfangen, sich zu bewegen, sie werden uns zerquetschen, zu einem Fleischblock zusammenpressen … ‘
Das Quieken erfüllt die Luft, schon titschen die Tiere gegen seine Handflächen - und als er die Arme hochreißt, um seine Hände davon zu befreien, beginnt das Gewimmel, an seinen Seiten emporzuquirlen, seinen Bauch zu bedecken.
Tills Kopf fliegt herum, seine rechte Gesichtshälfte brennt. Er ist gegen die Wand, die hinter ihm aufragt, geprallt - dann sieht er ihn: Den Mann mit den verbreiterten Mundwinkeln - er hat ihm mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen.
„Reiß dich zusammen - und KOMM jetzt!“, herrscht der Kerl ihn an - zerrt an seinem Arm, wühlt ihn frei, schaufelt das Getier, das schreiend übereinanderkrabbelt, zur Seite - sich zur Tür vorkämpfend, durch die er gekommen sein muss: Zur Tür, durch die Felix und die anderen Dunkelgestalten vor wenigen Minuten den Raum verlassen haben.
Weiter geöffnet bekommt der Mann den Türflügel jedoch nicht: Zu viele Ratten werden bereits dagegen gedrückt, schon purzeln, kugeln, kratzen sie quiekend durch den Spalt hindurch in den Gang, auf den die Tür führt.
Till spürt, wie sich die Leiber der Tiere unter seinen Sohlen winden, schiebt seine Unterschenkel durch die lebendigen Wellen, stößt sich mit den Händen an den Körpern ab, die um ihn herumgespült werden - und drängt durch die Tür ins Freie.
„VERDAMMTE DRECKSVIECHER!“ Der Mann rammt die Tür hinter sich zu, das Quieken schwillt an zu einem verzweifelten Gebrüll, einem vielstimmigen Todeschor, in dem Till meint, das Entsetzen der Ratten über die Verwüstung zu hören, die der Mann, der die Stahltür rücksichtslos zureißt, unter ihnen anrichtet. Der Sud, das Blut, der Dreck spritzt unter der Stahlkante hervor.
„Hilf mir!“, hört Till den anderen schreien, greift nach der Klinke, zerrt an der Tür, um sie zuzubekommen, gegen den weichen Widerstand, der sie blockiert, gegen die Leiber der Ratten, die das Pech haben, in den Türspalt geraten zu sein, gegen den Widerwillen, den Brechreiz, der immer mächtiger in ihm anschwillt.
Als es klickt - das Schnappschloss endlich einrastet - hört er sie weiter mit den Krallen an dem Stahl kratzen, glaubt fast das Pochen ihrer kleinen Herzen zu vernehmen, die gegen das Türblatt gepresst werden.
„Was … was … “ Till keucht. Seine Lunge pfeift, während er sich gegen die Wand sinken lässt.
Der überbreite Mund des Mannes zieht sich auf. „Felix braucht dich, das weißt du doch.“
„Hat Felix das gewusst - die Ratten … “
Der Mann wendet sich wortlos ab, läuft einfach den Gang hinunter.
„Warte!“
Till holt ihn ein, sie gehen nebeneinander.
„Wo ist Felix - ich … ich muss ihn sprechen … “
„Keine Angst, er wird sich schon melden. Ich soll dich erstmal zu ihr bringen.“
„Zu wem?“
Keine Antwort.
Till grübelt. Zu wem?
Schweigend laufen sie weiter. Der Mann wirft ihm einen Blick zu, zeigt sein Zahnfleisch. Willst du mal anfassen, scheint er sagen zu wollen, dort - in den Winkel, wo sie in die Wange hineingeschnitten haben? Und plötzlich sagt er es.
„Zu Lisa. Ich soll dich zu Lisa bringen.“
4
Rückblende: Vor zwölf Jahren
„Was willst du mir denn sagen?“ Lisa zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe und warf Till einen Blick zu. Sie trugen jeweils eine Papiertüte mit Brötchen, die sie am letzten Sonntagmorgen vor Schulbeginn gerade vom Bäcker geholt hatten.
„Ich habe in letzter Zeit viel an ihn gedacht“, erwiderte
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