Berlin Gothic 5: Nachts Bei Max
Tag über hatte Lisa mit sich gerungen, ohne zu einer Entscheidung zu finden. Natürlich gab es nicht wirklich einen Grund, weshalb sie ausgerechnet heute oder morgen diese Entscheidung fällen müsste. Und doch schob sie sie bereits seit Wochen, ja beinahe Monaten vor sich her und wurde immer mehr von dem Gefühl geplagt, dass sie sich endlich festlegen müsste. Festlegen bei der Frage, was sie mit ihrem Leben eigentlich anfangen wollte.
Mehrere Wochen waren bereits vergangen, seit sie das Volontariat bei der Zeitung abgeschlossen hatte. Und doch konnte sich Lisa nicht dazu durchringen, allen Ernstes die ihr in Aussicht gestellte Redakteurinnenstelle anzustreben. Sie wusste selbst nicht so genau, woran das lag. Daran, dass es das traditionelle Zeitungsgeschäft ohnehin nicht mehr lange geben würde? Daran, dass sie das Gefühl hatte, genausogut etwas anderes machen zu können? Müsste ihr nicht das, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, wie etwas Unausweichliches, Notwendiges, Zwingendes vorkommen? Etwas, das sie machen musste? Das aber war bei der ihr angebotenen Stelle ganz und gar nicht der Fall.
So hatte sie den ganzen Tag damit zugebracht, darüber zu grübeln, wie sie die Weichen nun stellen sollte, was aber auch diesmal wieder - wie jedes Mal wenn sie sich den Kopf darüber zerbrach - zu keinem Ergebnis geführt hatte. Und zwar auch deshalb nicht - das spürte sie ganz genau -, weil sie bei allem Starren auf ihre Lebensentscheidungen in Wirklichkeit mit ihren Gedanken ganz woanders war.
Seit Till für Bettys Hochzeit nach Berlin gekommen war, hatten sich Lisas Gedanken mehr und mehr auf ihn konzentriert. Dabei war es gar nicht so, dass sie und Till viel Zeit miteinander verbracht hätten. Sie hatten sich lediglich ein paar Mal gesehen. Und doch wurde Lisa seit seiner Ankunft von einem unbestimmten Gefühl, geradezu einer Art Bedrängnis, mehr und mehr heimgesucht. Einer Bedrängnis, die sich daraus ergab, dass sie mit Felix zusammenwohnte - die ganze Zeit über aber an Till denken musste.
„Henning hat mir gerade erzählt“, hörte sie Felix neben sich sagen, „dass dein Bruder ein Fest gibt, eine Art Party. Schon morgen Abend, in seiner Wohnung.“
Lisas Gedanken kehrten zurück in das Schlafzimmer, in dem sie lag. „Hast du das nicht gewusst?“ Sie schaute Felix etwas verwirrt an. Sie hatte fest damit gerechnet, dass Max Felix eingeladen hätte.
„Nein, ich habe keine Einladung erhalten.“
„Das muss Max vergessen haben - “
„Unsinn, so was vergisst dein Bruder nicht einfach.“
Lisa schwieg. Natürlich hatte Felix recht: Das war kein Versehen. Felix hatte keine Einladung erhalten, weil Max ihn nicht einladen wollte . Wirklich verwundert war Lisa darüber allerdings nicht.
„Es geht gar nicht darum, dass ich … was weiß ich … gern eingeladen wäre“, meinte Felix und sie fühlte, wie sich der Druck seiner Hand auf ihre ein wenig verstärkte. „Aber ich mache mir Gedanken wegen Max, weißt du? Ich habe ihn gestern kurz im Verlag gesehen, als er Till dort abgeholt hat, und er hat auf mich den Eindruck gemacht … wie soll ich sagen … als würde er etwas ausbrüten.“
„Ja?“
„Und jetzt diese Einladung. Klar, warum nicht? Nur … nein, ich will mich wirklich nicht einmischen, nur … du kennst Max doch besser als ich, du weißt, wie er dazu neigt, sich in gewisse Dinge hineinzusteigern - “
„Wo soll er sich denn hineinsteigern?“
„Ich weiß es doch auch nicht, Lisa“, Felix‘ Stimme wurde von einem Hauch Ungeduld durchzogen, „es kann ja sein, dass ich das alles überbewerte. Alles, was ich meine, ist, dass du vielleicht mal mit ihm sprechen solltest. Oder zumindest ein Auge auf ihn haben. Vielleicht am besten sogar noch bevor diese Party beginnt. Und wenn sich zeigen sollte, dass er … nun, dass er der Sache nicht wirklich gewachsen ist, versuchst du, es ihm auszureden.“
„Er soll einer Party nicht gewachsen sein?“
Felix atmete aus. „Ja, naja, stimmt schon … Vielleicht hast du recht.“
Lisa entzog ihm ihre Hand. „Was meinst du denn?“ Sie beugte sich zur Seite und knipste die Lampe auf ihrem Nachttisch an.
Der Lichtschein schlug das markante Profil von Felix aus dem Halbdunkel des übrigen Zimmers heraus. Seine großen Augen ruhten auf ihr. Lisa ließ sich zurück in ihr Kissen sinken. Sie fühlte, wie ihre Haare sich neben ihr auf dem weichen Polster ausbreiteten.
Für einen Augenblick sahen sie sich an.
„Du siehst angestrengt aus“,
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