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Berlin Wolfsburg (German Edition)

Berlin Wolfsburg (German Edition)

Titel: Berlin Wolfsburg (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Kuck
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du nicht die sechste sein willst, finde
heraus, wer dahintersteckt! Finde es schnell heraus.«
    Die Nachricht war nicht unterschrieben. Das war auch nicht nötig. Es
war immer derselbe Mann, der sich mit ihr in Verbindung setzte, telefonisch und
per Mail, und dessen Befehlen sie Folge zu leisten hatte. In dringenden Fällen
hatte sie auf exakt vorgeschriebene Weise Kontakt zu ihm aufzunehmen. Sein Name
spielte keine Rolle. Sie erkannte seine Stimme und seinen Schreibstil, und sie
wusste, dass sie in wenigen Minuten keinen Zugang mehr zur Mailadresse haben
würde. Er änderte nach jedem Kontakt die Zugangsdaten oder löschte den Account.
Manchmal hörte sie viele Wochen oder gar Monate nichts von ihm, aber kaum
begann sie, die zarte Hoffnung zu schöpfen, alles könnte ein Ende gefunden
haben – welches auch immer –, war er wieder da: mit einem Anruf und einer
Nachricht, aus der hervorging, was sie zu tun oder zu lassen hatte.
    Sie loggte sich wieder aus und fuhr den PC herunter. Fünf waren tot. Sie hatte nicht einen Moment an Suizid geglaubt, als
die Fälle bekannt wurden und die Einzelheiten durchsickerten. Wer immer tätig
geworden war, hatte es verdammt geschickt angestellt. Die Polizei tappte im
Dunkeln, sie selbst tappte im Dunkeln und die anderen auch. Das war das
eigentlich Interessante. Oder war das alles nur ein besonders mieser Trick, um
sie einzuschüchtern oder zu überprüfen? Hatten die fünf unverzeihliche Fehler
begangen? War sie dabei, auch einen zu begehen? Möglich war alles.
    Hannelore Maurer stand auf und schenkte sich an der Bar im
Wohnzimmerschrank einen Wodka ein. Der dritte am heutigen Abend. Mehr durften
es nicht werden, sonst würde sie morgen mit Tränensäcken im Gericht erscheinen.
Richter Merseburg würde sie mit anzüglichem Blick mustern. Und ein schnelles
Urteil fällen – in jeder Hinsicht.
    Vor vier Jahren, mit einundvierzig, war sie schwanger geworden.
Nicht aus heiterem Himmel, aber völlig überraschend und noch unerwünschter.
Frisch geschieden, hatte sie sich im Skiurlaub in den Dolomiten eine Affäre
gegönnt, bei der kein sexueller Wunsch offen geblieben war. Der Mann war
phantastisch gewesen – im Bett. Mehr hatte sie nach einigen auch in erotischer
Hinsicht öden Ehejahren nicht im Sinn gehabt, und er auch nicht.
Unglücklicherweise hatte sie erst viel zu spät gemerkt, dass das Ausbleiben ihrer
Regel keine der üblichen Schwankungen darstellte, an die sie seit geraumer Zeit
gewöhnt gewesen war und die sie als Vorboten des Klimakteriums achselzuckend
abgetan hatte.
    Hannelore hatte nie ein Kind gewollt, nicht nur weil im Fokus ihres
Lebens ihre persönliche Entwicklung stand, und das hieß auch oder sogar
vorrangig: Karriere. Sie war gut in ihrem Beruf, und sie hatte vor, alle
Chancen zu nutzen, die sich ihr boten. Aber noch viel entscheidender war, dass
sie nichts für Kinder empfand. Sie waren ihr schlichtweg egal. Sogar das Lachen
oder Weinen von Babys ließ sie kalt, vielleicht fehlte ihr das entsprechende
Mütterlichkeits-Gen, und herumtobende Kleinkinder auf dem Spielplatz musste sie
ebenso wenig haben wie pubertierende Jugendliche mit Pickeln. Kurzum: Sie hätte
sonst was dafür gegeben, den Fötus loszuwerden. Aber es war zu spät gewesen für
eine Abtreibung, selbst bei einer Engelmacherin.
    Als Mirko mit schwersten körperlichen und geistigen Behinderungen
zur Welt kam, war Hannelore fest davon überzeugt, dass sie allein an seinem
Zustand schuld war. Ein zutiefst abergläubischer Gedanke, über den sie niemals
mit jemandem sprach. Er klang umso absurder, wenn man bedachte, dass sie eine
erfolgreiche, nüchtern analysierende und faktenorientierte Juristin war. Aber
der Gedanke blieb. Er war hartnäckig und kraftvoll und nistete sich mitsamt
seiner Absurdität und Dummheit in ihr ein wie eine zweite Schwangerschaft, die
nicht neun Monate, sondern vielleicht ein Leben lang währen würde.
    Hannelore hatte ihren Sohn in einer kirchlichen
Betreuungseinrichtung untergebracht, in der rund um die Uhr für ihn gesorgt
wurde und wo sie ihn zweimal in der Woche besuchte, manchmal auch häufiger. Sie
wusste nichts mit diesem Wesen anzufangen, das kaum allein atmen konnte, niemals
sprechen und laufen lernen würde und dessen Lebenserwartung schätzungsweise
zwischen zehn und zwanzig Jahren lag. Nach und nach hatte sie begriffen, dass
sie Mirko ebenso wie ihre eigenen abwehrenden Gedanken und verstörenden Gefühle
fürchtete, doch je übermächtiger ihr innerer

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