Berndorf 07 - Trotzkis Narr
noch eine Tasse Tee eingeschenkt, »ach!«, sagt sie plötzlich, »wie ist eigentlich Ihre Beziehung zu Dagmar Wohlfrom-Kühn?«
Und die Blaue Stunde verklingt, noch ehe sie begonnen hat.
H arald v. Täubnitz, ein großer, etwas nach vorne gebeugter Mann mit Drahtbrille und wehender, nun auch schon weißer Haarmähne, führt Berndorf in seinen Arbeitsraum, der mit seinen nach Norden gelegenen Dachfenstern auch als Atelier für einen Maler dienen könnte. »Meine liebe, um nicht zu sagen: meine verehrte Kollegin Stein hat mir Ihren Besuch avisiert«, sagt er und räumt von einem Ledersessel einen Stapel Zeitschriften ab, so dass der Besucher sich setzen kann. »Sie schrieb mir, dass Sie sich für den Trotzkismus interessieren, das ist freilich ein weites Feld!« Er hat sich hinter seinen Schreibtisch gesetzt, stellt aber fest, dass ein weiterer Stapel, diesmal von Büchern, den Blick auf den Besucher verhindert. Also steht er wieder auf und setzt den Stapel kurzerhand auf dem Boden ab. »Laut einem der letzten Verfassungsschutzberichte gibt es in Deutschland zwar nur rund achtzehnhundert Trotzkisten, aber dafür achtundzwanzig trotzkistische Fraktionen und Gruppierungen. Da die Sehkraft des Verfassungsschutzes auf dem linken Auge deutlich schärfer ist als auf dem rechten, kann das sogar hinkommen!«
Berndorf bedankt sich für die freundliche Begrüßung und erklärt, dass er an der Biographie eines DDR-Sportlers interessiert sei – »der Mann war Boxer, Halbschwergewicht, und wurde wiederholt in die DDR-Auswahl berufen. Nach 1983 ist dann plötzlich nichts mehr von ihm zu lesen. Da war er noch keine dreißig, also zu jung, um altershalber aufhören zu müssen. 1985 wurde er verurteilt …«
»Sie sprechen von Brutus Finklin«, unterbricht ihn v. Täubnitz. »Angeblich hatte er Kontakte zu Militant Tendency, das war die Gruppe, die in den Achtziger Jahren in Liverpool plötzlich die dortige Labour Party kontrollierte und damit die Mehrheit des Stadtrates. Wie es zu diesem Kontakt kam, weiß ich nicht, auch nicht, ob Finklin womöglich versucht hat, andere Athleten gegen die autoritäre Sportführung aufzubringen – ich bin kein Spezialist für die Sportgeschichte der DDR , obwohl zu den Doping-Exzessen noch viel zu sagen wäre, wenn es die Krähen im Olympischen Komitee nur zuließen …!«
Berndorf nickt artig. Barbara hatte ihn vorgewarnt: Der Publizist und Lehrbeauftragte v. Täubnitz werde, wenn er erst einmal ins Reden gekommen sei, nur schwer zu bremsen sein.
»Mitte der Achtziger Jahre waren die DDR -Kader bereits außerordentlich verunsichert«, fährt Täubnitz fort, »diese Staatsbürokratie, die auf Westdevisen angewiesen war wie der Junkie auf die nächste Spritze Heroin – die entsprach zu genau dem Bild, das die Trotzkisten von ihr zeichneten. Und zusätzlich befeuert wurde der Verfolgungswahn der Kader gerade dadurch, dass die Trotzkisten den Sozialismus ja nicht abschaffen, sondern ihn von innen heraus verändern wollten.«
Unverändert macht Berndorf ein höfliches Gesicht, während Täubnitz über die Angst aller autoritären Systeme referiert, von innen unterwandert und manipuliert zu werden.
»Sie kennen doch diese Hollywood-Filme, in denen die Bösen gar keine Menschen sind, sondern nur als Menschen verkleidete Ungeheuer, die nichts anderes im Sinne haben, als sich in die friedliche Familie der frommen weißen braven US -Amerikaner einzuschleichen und sie in ihre Krallen zu bekommen – in gewisser Weise knüpft die Angst, mit der hier gespielt wird, an die traumatische Erfahrung des Sturms auf das Winterpalais an. Und den hat wer organisiert und geleitet … ?«
Berndorf räuspert sich. »Sie wissen nicht, ob Finklin heute noch in irgendeiner Weise in eines dieser Netzwerke eingespannt ist?«
Täubnitz blickt auf. »Netzwerk ist sicher kein falscher Ausdruck. Die Leute in dieser Szene waren schon Netzwerker und haben sich so verstanden, lange bevor dieser Ausdruck populär wurde. Aber Finklin? Ich erinnere mich dunkel an eine Mehrzweckhalle irgendwo in Frankfurt/Main oder Offenbach, vielleicht war es auch in Wanne-Eickel, rotes Spruchband auf dem Podium, in Schwarz irgendeine Parole, zu der eine geballte Faust gehört, überall liegt Papier herum, ein Mann auf dem Podium, dünner Beifall, sehr dünner Beifall, der Mann steigt vom Podium und geht auf dem Mittelgang durch die Stuhlreihen, ein kräftiger Mann, der mit merkwürdiger Leichtigkeit geht, dabei müsste er niedergedrückt
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